Norwegen – Land der Fjorde, Wasserfälle und Wikingerstädte. Berge, Gletscher, Seen und Wälder wechseln sich mit den typischen rot gestrichenen Holzhäuschen ab. Kinder balancieren über rauschende Bäche, klettern auf Bäume, spielen in den Fjorden am Meer, schnitzen kleine Trolle aus Treibholz und erleben Abenteuer im Wald vor der Haustüre. Aber ist das wirklich so oder eine Traumvorstellung? Dürfen Kinder unbeaufsichtigtes, riskantes Spiel heutzutage noch erleben? Und wenn ja, warum ist das so wichtig?

 

Eine, die sich Fragen dieser Art widmet, ist Ellen Beate Hansen Sandseter. Ellen beschäftigt sich seit mehreren Jahrzehnten mit dem Risikoverhalten und den Risikobedürfnissen von Kindern und Jugendlichen. Ihre Studien und Publikationen der letzten Jahre legen den Fokus auf das Erfahren und Erleben von riskantem Spiel und warum dieses so wichtig für die gesunde physische, psychische und kognitive Entwicklung von Kindern ist.

 

NorwegenWir hatten die Möglichkeit, mit der sympathischen Norwegerin über ‚risky play‘ und die Zukunft unserer Kinder und Jugendlichen zu sprechen. Lest selbst!

 

Simone: Du warst eine der ersten Forscherinnen, die Kinder einfach selbst gefragt hat, wie sich riskantes Spiel für sie anfühlt. Welche Antworten hast du bekommen?

 

Ellen: Sehr viele lustige Antworten!  Die Kinder haben sich sehr darüber gefreut, mit mir sprechen zu können. Es war ihnen sogar sehr wichtig. Vieles von dem, was sie gesagt haben, ist den Erzählungen von Extremsportler*innen ähnlich. Es geht um körperliche und emotionale Erregung: Du fühlst dich emotional total aufgeregt und hast gleichzeitig ein bisschen Angst. Da gab es Beschreibungen wie: „Mein ganzer Körper zittert“, „Ich muss einfach nur laut schreien“, „Es kitzelt in meinem Bauch“, aber gleichzeitig begrüßen sie diese körperlichen Erfahrungen und Emotionen.

 

Joanna: Wie wissen Kinder, mit welchem Maß an Risiko sie umgehen können?

Ellen: Kinder haben immer ihre eigene Art und Weise, ihr eigenes Maß zu finden. Anstatt sehr risikoreiche Dinge zu tun, mit denen sie nicht umgehen können, loten sie das Niveau aus, das sie für sich gefunden haben. Für manche Kinder bedeutet das, in eine Baumkrone zu klettern und für andere wiederum, nur bis zum zweiten oder dritten Ast zu klettern.

Sie müssen keine extremen Dinge tun, sie experimentieren in ihrer eigenen Umgebung und auf ihrem eigenen Niveau.

Simone: Wie bekommen Kinder überhaupt Zugang zu riskantem Spiel?

Ellen: Kinder müssen die Möglichkeiten haben, zu entdecken. Das Gefühl, die Kontrolle zu haben und Vertrauen geschenkt zu bekommen.

Verantwortung für ihre eigenen Handlungen zu übernehmen, bedeutet ihnen viel. Das ist vor allem wichtig, weil sie in einer Gesellschaft aufwachsen, in der sie ständig von Erwachsenen beaufsichtigt werden, die ihnen sagen, was sie tun oder nicht tun sollen.

Die hauptsächliche Herausforderung für Erwachsene ist auch, Strategien zu entwickeln, um nicht in das kindliche Spiel einzugreifen.

risky playJoanna: Wie meinst du das?

Ellen: Tatsächlich zeigen meine Beobachtungen, dass die meisten gefährlichen Situationen dann entstehen, wenn ein Erwachsener versucht hat, ein Kind zu unterbrechen.

Kinder wissen, wenn sie ein Risiko eingehen, also fokussieren sie sich darauf, damit umzugehen.

Wenn sie zum Beispiel einen Baum hochklettern, konzentrieren sie sich auf ihre Bewegung. Sie fragen sich, ob sie ihr Gewicht auf einen Ast setzen können oder ob er dann bricht. Auf einmal wird dieser „Flow“ durch einen Erwachsenen unterbrochen, der vom Boden aus ruft: „Sei vorsichtig, fall nicht runter!“ Genau in diesem Moment verlieren sie ihre Konzentration und die Sache kann gefährlich werden. Nur aufgrund der Angst der Erwachsenen, nicht wegen ihrer eigenen Angst.

 

Joanna: Warum ist riskantes Spielen so wichtig?

Ellen: Kinder lernen und entwickeln sich durch Spielen. Risiko ist ein wichtiger Teil davon. Wenn du ein Kind davon fernhältst, beraubst du es tatsächlich von wichtigen Entwicklungs- und Lernmöglichkeiten. Du nimmst ihnen intensive Erlebnisse.

Wenn du möchtest, dass Kinder glücklich sind, sich angemessen entwickeln und lernen, dann musst du ihnen die Möglichkeiten geben, sich selbst und ihre Grenzen auszuloten. Wenn du das tust, kannst du dich auch als Elternteil mehr entspannen, weil dein Kind besser darin wird, Risiko einzuschätzen, zu bewältigen und damit umzugehen.

Simone: Wie du vorher gesagt hast, reagieren Eltern oft übervorsichtig aufgrund ihrer eigenen Ängste. Es scheint unterschiedliche Wahrnehmungen von Risiko bei Erwachsenen zu geben. Woher kommt das?

 

Ellen: Zwei Dinge spielen hier eine Rolle: Es gibt Erwachsene, die wissen, wie wertvoll es ist, sich aktiv in der Natur zu bewegen, Nervenkitzel zu spüren und damit eine Verbindung zu Risiko herzustellen. Sie haben einen Referenzrahmen.

Heutzutage sehe ich meine Student*innen in ihren frühen Zwanzigern, die diesen Referenzrahmen nicht haben. Sie haben stattdessen iPad-, Netflix- und Spielkonsole-Referenzen.  Sie haben weniger physische Erfahrung mit Risiko und sind in einer eher risikoscheuen Gesellschaft aufgewachsen.

Hier kann es auch herausfordernd sein, wenn Menschen, die eher risikoscheu sind, ein Kind großziehen, das sich nach mehr Reizen und Risiko sehnt. Das Kind möchte dann mehr Risiko erfahren als es die Eltern zulassen können.

 

Simone: Klingt kompliziert. Also du forschst, schreibst Bücher, lädst Eltern zu deinen Vorträgen ein und fragst sogar Kinder nach ihren Erfahrungen mit riskantem Spiel. Glaubst du, dass riskantes Spiel mehr Platz im politischen Diskurs finden sollte?

 

Ellen: Ich denke, man sollte versuchen, überall Einfluss zu nehmen. Auch in der Politik. Deswegen sind Politiker*innen natürlich wichtig. In Norwegen ist riskantes Spiel sogar Teil des Lehrplans für Vorschulen und Schulen geworden. Rechtlich ist es im sogenannten „Kindergartengesetz“ verankert. Riskantes Spiel ist etwas, das Erzieher*innen anbieten müssen. Es ist nicht so, dass sie es anbieten können. Sie müssen es anbieten. Das verhindert auch Rechtsstreitigkeiten oder Gerichtsklagen und hilft Erzieher*innen, vor verärgerten Eltern gewappnet zu sein, wenn etwas passiert.

Joanna: Ein Gesetz für riskantes Spiel ist beeindruckend. Manche Länder sind da wahrscheinlich weit davon entfernt. Was können wir noch tun?

 

Ellen: Manche Vorschulen veranstalten Aktivitäten für Eltern. Damit sie Nervenkitzel erfahren und selbstbewusster draußen in der Natur werden. Auf diese Art werden sie entweder an Aktivitäten erinnert, die sie vielleicht vergessen haben oder sie lernen sie ganz neu kennen, wenn sie diese Erfahrung vorher noch nicht gemacht haben. Eltern bekommen einen Referenzrahmen für riskantes Spiel.

Natürlich kann man nicht die ganze Welt ändern. Aber man kann irgendwo damit anfangen.

Organisationen und Initiativen wie eure, die Alpenvereinsjugend Österreich, sind sehr wertvoll. Sie ermöglichen, dass zurückhaltende Eltern ihren Kindern die Möglichkeiten geben können, Dinge zu erleben, die sie ihnen so nicht bieten können. Oder entsprechende Angebote für Familien führen einfach dazu, dass Eltern und Kinder diese Aktivitäten gemeinsam erleben.

 

Joanna: Kommen wir zum Schluss. In einem idealen Zukunftsszenario ist riskantes Spiel auf natürliche Art und Weise ein Bestandteil im Leben eines jeden Kindes. Dennoch ist es Fakt, dass Kinder immer mehr Zeit zu Hause verbringen und sich hinter Bildschirmen verstecken. Wie siehst du die Zukunft?

 

Ellen: Nun ja, über die Zukunft zu sprechen, ist immer eine Herausforderung. Es wäre falsch, sich an die eigene Kindheit zu erinnern und zu denken: „Oh, diese glorreichen Tage meiner Kindheit…Früher war alles besser.“ Kinder wachsen heute mit Technologie und Digitalisierung als normale Bestandteile ihres Lebens auf. Manche Aspekte davon sind tatsächlich sehr positiv.

Ich würde gerne sehen, dass Erlebnisse in der Natur, riskantes Spiel und Risikoerfahrungen Hand in Hand mit Technologie und Digitalisierung voranschreiten. Das ideale Szenario wäre also, wenn sich die jeweils guten Seiten dieser Dinge ergänzen würden und Kinder und Jugendliche eine gesunde Balance zwischen Technologie und Bildschirmen und intensiven Naturerfahrungen finden würden.

‚risky play‘

2007 veröffentlichte Ellen mit „Categorising Risky Play“ die erste Studie, in der riskantes Spielen kategorisiert wird. Ende 2021 veröffentlichte sie ein Buch unter dem Titel ‚Risikofylt lek‘ (riskantes Spiel). Eine Übersetzung in mehrere Sprachen ist geplant.

Riskantes Spiel ist aufregendes, unvorhersehbares Spiel, bei dem man nicht weiß, was passieren wird. Während ein gewisser Grad an Unvorhersehbarkeit allen Arten von kindlichem Spiel zu Grunde liegt, ist der Unterschied von „normalem Spiel“ zu „riskantem Spiel“ jener, dass man sich beim riskanten Spielen körperlich verletzen kann.

Eigenschaften von ‚risky play‘

  • Spielen in großen Höhen
  • Erleben hoher Geschwindigkeiten
  • Spielen mit gefährlichen Gegenständen
  • Spielen in der Nähe von gefährlichen Elementen (Feuer, Wasser)
  • Elementen (Feuer, Wasser)
  • Wildes Spielen (raufen)
  • Spielen, wo Kinder verloren gehen können (ohne Aufsichtsperson)

 

*Skummeltartig ist Norwegisch für: “furchterregender Spaß”

+ posts

Simone Hütter ist Mitarbeiterin in der Abteilung Jugend des Österreichischen Alpenvereins und für die Medien der Alpenvereinsjugend verantwortlich.

+ posts

Joanna Kornacki ist Mitarbeiterin in der Abteilung Jugend des Österreichischen Alpenvereins und ehrenamtliche Jugendleiterin.

+ posts

Ellen Beate Hansen Sandseter ist Sportwissenschaftlerin, Psychologin und Professorin am Queen Maud’s College of Early Childhood Education in Trondheim und hat zahlreiche Bücher zum Thema Risikopädagogik und ‚risky play‘ in mehreren Sprachen veröffentlicht. Privat beschreibt sich Ellen als ‚Risikosuchende‘, die am liebsten draußen mit ihren (mittlerweile erwachsenen) Kindern beim Klettern, Skitourengehen, Langlaufen, Kanufahren oder Wandern in den Bergen und Fjorden Norwegens unterwegs ist.

Comments are closed.