Wie entwickeln Kinder Selbstverantwortung?

Es ist wohl der Wunsch der meisten Eltern und Wegbegleiter ihren Kindern (frei nach Gibran) Wurzeln zu geben, damit man Flügel schenken kann. Die Alpenvereinsjugend beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Entwicklungs-Freiräumen und macht sich für gesunde Risiken im Leben junger Menschen stark. Dabei spielt das Thema Verantwortung eine große Rolle. Vera Kadletz lädt uns im Gespräch mit der Psychologin Robin Menges ein, dem Thema Selbstverantwortung im Kindesalter auf die Spur zu kommen. Der Fokus dabei: Entwicklungschancen im Risiko.

 

Sie beschäftigen sich in Ihrer Arbeit mit der menschlichen Entwicklung. Können Kinder aus entwicklungspsychologischer Sicht überhaupt schon selbst Verantwortung übernehmen?

Ja. Es ist sehr spannend, wie ein Säugling Verantwortung für sich nimmt. Wenn der Kontakt über Augen oder Babysprache dem Kind zu viel werden, dreht es den Kopf weg. Das Baby übernimmt an dieser Stelle Verantwortung für sich selbst, weil ihm der Kontakt zu viel wird. Selbstverantwortung entwickelt sich im Laufe des Lebens. Das heißt nicht, dass ich von einem Sechsjährigen umfassend Verantwortung erwarten kann, aber für sich selbst und seine Grenzen lernt ein Kind zunehmend Verantwortung zu übernehmen.

Sie haben soeben die Selbstverantwortung genannt. Könnten Sie diesen Begriff näher beschreiben?

Wenn wir von Selbstverantwortung sprechen, geht es um die Verantwortung darüber, wie ich mit mir umgehe, und das hängt davon ab, wie ich mich selbst sehe. Das verändert sich im Laufe des Lebens und entwickelt sich dadurch, wie ein Kind gesehen wird und durch Erfahrungen mit anderen. Das Kind entwickelt durch die Blicke der anderen (Eltern, Jugendleiter, Lehrer*innen, …) einen Blick für sich selbst. Wenn ich in die Selbstverantwortung gehe, dann nehme ich mich selbst, meine Träume, Wünsche und Werte ernst. Selbstverantwortung ist allerdings kein fixes Konzept, sondern bezieht sich ganz konkret auf Handlungen. Zum Beispiel welche Entscheidungen ich in der Kletterwand treffe oder wie ich mit dem Jugendlichen umgehe, der mich nervt.

Gibt es für Sie einen Unterschied zwischen Selbstverantwortung und individueller Risikoverantwortung?

Die bewusste Thematisierung der Risikoverantwortung durch den AV halte ich für sehr wichtig. Aus meiner Sicht ist Risikoverantwortung ein Teilaspekt der Selbstverantwortung. Und andersherum betrachtet, trägt die Auseinandersetzung mit Risiken, entlang der eigenen Grenzen und den Grenzen der Natur maßgeblich zur Entwicklung von Selbstverantwortung und einem realistischen Gefühl für sich selbst bei.

Können Kinder mit Selbstverantwortung auch überfordert werden?

Kinder bekommen oft Verantwortung für Entscheidungen, die Erwachsene nicht treffen. Und die ist zu viel. Ein Kind kann sagen, ob es etwas mag oder nicht mag. Ein Kind kann jedoch nicht über einen größeren Kontext entscheiden. Wenn ich dem Kind z.B. sage, dass wir nur an die frische Luft gehen, wenn es die Hausaufgaben erledigt hat, dann mache ich meine Entscheidung, ob wir an die frische Luft gehen, von dem Kooperieren des Kindes abhängig. Ob es die Hausaufgabe schafft oder nicht schafft, hat mit meinem Bedürfnis und dem Wissen, dass die frische Luft uns allen gut tun würde ja nichts zu tun. Jesper Juul hat mal gesagt: „Kinder haben eine unendliche Weisheit, aber sie haben ein begrenztes Wissen.“ Das sollte man in Betracht ziehen.

In Ihrem Buch „Selbst.Wert.Gefühl“ schreiben Sie über die Entwicklung von psychischer Stabilität, Widerstandsfähigkeit und Erfolg im Leben. Im Alpenverein erleben wir, dass Kinder und Jugendliche bei Risikosportarten Selbstwirksamkeit erleben. Wir gehen hier von positiven Impulsen für den Selbstwert aus. Welche Verbindungen gibt es aus Ihrer Sicht zwischen Aufbau von Selbstwert, Selbstwirksamkeit und Widerstandsfähigkeit?

Es gibt Zusammenhänge, nicht unbedingt kausale, in dem zum Beispiel ein höherer Selbstwert per se eine höhere Selbstwirksamkeit zur Folge hat oder umgekehrt. Aber sie entwickeln sich gemeinsam. Selbstwirksamkeit entwickelt sich aus dem Erleben, dass ich etwas bewirken kann – mein Tun und mein Handeln wirkt sich aus. Das Gefühl „Ich bin wertvoll, ich kann einen Beitrag leisten“ stärkt das Kind.

Wie kann ein gutes Selbstwertgefühl zur Entwicklung von Kindern beitragen?

Ein „gutes Selbstwertgefühl“ heißt nicht „Ich bin so toll“ oder „Ich kann alles besser“. Ein gutes Selbstwertgefühl ist, wenn ich mit mir selbst zufrieden bin und mir selbst gegenüber eine gewisse unaufgeregte Selbstakzeptanz habe. Wenn Kinder erfahren dürfen „Ich bin wie ich bin und das ist okay!“, dann trägt das positiv zu ihrer Entwicklung bei. Dieses Gefühl für sich selbst führt auch dazu, dass Kinder lernen die Verantwortung für sich zu übernehmen. Das fängt bei kleinen Kindern damit an, dass sie lernen „Nein“ zu sagen. Man könnte sagen, dass das Trotzalter die erste Phase der Selbstverantwortung ist, in der experimentiert wird wo die eigenen Grenzen liegen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Kinder ein gutes Gespür für sich selbst entwickeln, sowohl für ihren Körper als auch für ihre Bedürfnisse und Grenzen.

Gibt es hier einen Zusammenhang mit Bewegung und Draußen-Sein?

In Zusammenhang mit Sport und Bergerlebnissen sind es vor allem jene Erfahrungen, in denen sich ein Kind spüren kann. Hier geht es z.B. um Balance und die Bewegungsfähigkeit. Schon beim Baby entwickelt sich die Selbststeuerung gemeinsam mit der Bewegungsentwicklung und das ist die Basis für spätere Selbsteinschätzungen und das Vertrauen in sich selbst.

Können Kinder auch schon selbst Risiken einschätzen – zum Beispiel beim Klettern, Wandern oder Biken?

Aus meiner Erfahrung gelingt die Risikoabschätzung umso genauer, je erfahrener das Kind im Umgang mit seinem eigenen Körper und seinen Fähigkeiten ist. Das hängt von den Möglichkeiten ab, die ein Kind bekommt, sich in Grenzsituationen auszuprobieren. Wenn ein Kind in seiner Entwicklung die Möglichkeit hat, selbst nächste Entwicklungsschritte ohne Fremdsteuerung auszuprobieren, dann folgt auch seine Bewegungsentwicklung dem inneren „Plan“. Das muss aber natürlich in einem überschaubaren Gefahrenbereich sein. Die Muskeln entwickeln sich beispielsweise ganz anders, wenn ein Kind sich von selbst und ohne Unterstützung aufsetzt. Natürlich hat ein Kind, das mehr Erfahrung mit Treppensteigen und im abschüssigem Gelände hat, mehr Referenzpunkte und kann dadurch besser abschätzen, ob es sich etwas traut oder nicht. In solchen Fällen haben die Erwachsenen eine ganz entscheidende Rolle, weil sie für Kinder sowohl der Referenzpunkt als auch die Rahmengeber sind.

Rahmengeber ist ein gutes Stichwort. Wie können Erwachsene oder Eltern ihre Kinder am Besten dabei begleiten Selbstverantwortung zu übernehmen?

Es braucht zuerst Zutrauen und Vertrauen in die Entwicklung des Kindes, im Gegensatz zu dem Gefühl „Mein Kind ist mangelhaft“. Außerdem braucht es die Fähigkeit sich im sicheren Rahmen zu erfahren. Über diesen Rahmen entscheide ich als Erwachsener. Von der Fehlerforschung wissen wir, dass niemand aus den Fehlern anderer lernt. Kinder lernen hauptsächlich durch Versuch und Irrtum – dafür brauchen sie den Raum, um Fehler machen zu können. Der Lerneffekt tritt am besten ein, wenn kleine Pakete von Verantwortung von den Erwachsenen übergeben werden. Und braucht es neben dem wertfreien Beobachten noch Neugier und Interesse dafür, wie das Kind diese Situation meistert. Das bedeutet auch, Kindern den Frust nicht abzunehmen, sondern ihnen Frust zu erlauben, um daran zu wachsen. Ihnen das Gefühl zu geben, dass wir es ihnen zutrauen, es zu schaffen, auch wenn es nicht auf Anhieb gelingt.

Sehen Sie eine Diskrepanz zwischen dem Funktionieren-Sollen in einer Leistungsgesellschaft und dem Übernehmen von Selbstverantwortung?

Ja. Ich sehe da nicht nur eine Diskrepanz, sondern einen Widerspruch. Es ist der Widerspruch zwischen Sollen und Wollen. Wollen hat in unserer Gesellschaft einen negativen Beigeschmack. Um in die Selbstverantwortung zu gehen, muss ich etwas wollen dürfen. Das Funktionieren sollen richtet sich an äußere Maßstäbe, die nicht unbedingt mit den inneren Maßstäben übereinstimmen, die sogar oft den eigenen komplett entgegen stehen. In meinem Buch schreibe ich darüber, dass Funktionieren der neue Gehorsam ist. Eltern erwarten vielfach, dass Kinder im Tagesablauf-Plan funktionieren und nicht frustriert oder enttäuscht sind. Eltern messen oft das Glück des Kindes daran ob es frustriert ist oder nicht und dabei sollte es dann auch noch im diktierten Rhythmus tanzen. Das ist ein Widerspruch. Konflikte gehören zum Leben dazu.

Warum sollten wir Kinder in die Selbstverantwortung begleiten?

Alle Kinder, und nicht nur die, alle Menschen stärkt es, wenn sich jemand aufrichtig für deren Sein interessieren und nicht nur für ihre Leistung. Wenn eine Dysbalance ensteht und der Fokus nur auf der Leistung liegt, dann schwächt das Kinder. Kinder fühlen sich in der Selbstverantwortung wertvoll und wirksam. Dadurch können sie in unserer Gesellschaft besser auf sich selbst aufpassen. Der Schutz des Eigenen liegt immer in unserer eigenen Hand. Im ganz Konkreten kann nur ich wissen, was mir zu viel ist und was mir entspricht.

Haben Sie ein paar abschließende Wort für unsere Leser?

Auch wenn wir oft das Gegenteil denken: Wenn es jedem einzelnen von uns gut geht, dann geht’s uns allen gut. Denn nicht nur, weil es einer Gesellschaft insgesamt gut geht, geht es dem Einzelnen gut. Kinder, die in die Selbstverantwortung gehen, sind Kinder, die nicht immer funktionieren aber dafür bereichern sie unser aller Leben mit ihrer Lebendigkeit

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Vera Kadletz, sie ist Jugendleiterin und Landesjugendteamleiterin in Salzburg

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Mag.a Robin Menges arbeitet als Klinische und Gesundheitspsychologin, Familien- und Paartherapeutin und Supervisorin in Innsbruck. Soeben erschienen ist ihr Buch Selbst.Wert.Gefühl – Ein Handbuch zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen.

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