Richtige Taktik und gute Psyche sind beim Alpinklettern entscheidende Faktoren, ob wir eine Tour erfolgreich bewältigen können oder nicht. Fehlt die Taktik und schätzen wir unsere psychischen Fähigkeiten falsch ein, können wir – im Gegensatz zum Sportklettern – im alpinen Gelände schnell in ernste Situationen geraten.

Taktik

Eine allgemein gültige Taktik und Herangehensweise beim Alpinklettern festzulegen, ist fast unmöglich. Dafür sind persönliche Voraussetzungen, Risikobereitschaft, Bedingungen in der Tour, Art der Kletterei und Absicherung von Fall zu Fall und von Person zu Person zu unterschiedlich. Dennoch gibt es ein paar Regeln, mit denen wir unser Risiko in alpinen Routen überschaubar gestalten können.

Tourenplanung

Während der Vorbereitungsphase sammeln wir über die geplante Tour – zusätzlich zu den harten Fakten wie Länge und Schwierigkeit – so viele aktuelle Informationen wie möglich:

  • Wie sind die herrschenden Bedingungen?
  • Was erwartet uns bezüglich Absicherung?
  • Wie sind Zu- und Abstieg?
  • Wie ist die konditionelle Gesamtanforderung?
  • Wann war die letzte Begehung?
  • Wie viel Zeit werden wir für die gesamte Unternehmung benötigen?

Bereits in der Planung gehen wir die Schlüsselseillänge(n) und neuralgische Stellen wie z.B. Quergänge durch und überlegen uns eine Strategie, wie wir diese Passagen am besten bewältigen werden. Mit zunehmender Erfahrung gelingt uns dieses Vorwegnehmen immer besser und die Route wird dann in der Realität ziemlich genau dem entsprechen, wie wir sie uns vorgestellt haben. Ebenfalls definieren wir gemeinsam mit unserem/r Kletterpartner*in, wer welche Seillängen führt sowie Checkpunkte, Rückzugsmöglichkeiten oder Varianten, um bei eventuellen Fehleinschätzungen auf einen Plan B zurückgreifen zu können.

Vor dem Einstieg, vor jeder Seillänge, vor jedem Abschnitt

Zur Vorbereitung vor dem Einstieg – dazu zählen Material sortieren, eine kurze Stärkung, Klettergurt anziehen und Helm aufsetzen etc… – wählen wir einen möglichst bequemen und ebenen, vor allem aber möglichst steinschlagsicheren Ort in ausreichender Entfernung zur oder ganz nahe bei der Wand unter einem Überhang.

Führt der letzte Teil des Zustiegs über Schrofengelände, ziehen wir uns Helm und Gurt bereits vor Erreichen des absturzgefährdeten Geländes an. Zusätzlich bereiten wir eine Selbstsicherungsschlinge vor, um uns gegebenenfalls am ersten Stand während des Anseilens zu sichern.

Vor Beginn der jeweiligen Seillänge werfen wir immer einen Blick auf das Topo, zeichnen den Routenverlauf gedanklich nach, sprechen uns mit dem Seilpartner bzw. der Seilpartner*in ab und klettern anschließend fest entschlossen los. Bei Zweifeln oder Unsicherheiten ist es wichtig, dies dem/r Partner*in zu kommunizieren und eventuell diesem den Vortritt zu lassen. Wenn wir zum Beispiel wissen, dass der Kletterpartner bzw. die Kletterpartnerin in Platten besser klettert, sollten wir von Anfang an die Reihenfolge bei Wechselführung so wählen, dass er/sie idealerweise bei solchen Seillängen mit der Führung an der Reihe ist. Dasselbe gilt für Schlüsselseillängen, bei denen idealerweise der/die Stärkere und Erfahrenere der Seilschaft als Vorsteiger*in zum Zug kommt. Man kann dies auch kurzfristig entscheiden, der Wechsel ist dann allerdings mit Zeitverlust verbunden.

Das vorherige Festlegen von Entscheidungspunkten ist unerlässlich für eine risikoarme und möglichst effiziente Begehung einer Alpinklettertour. An jedem Stand wird der weitere Routenverlauf studiert, mit dem Topo abgeglichen und die leichteste logische Linie gesucht.

Beim Klettern selbst nutzen wir Rastpunkte und Ruhepositionen nicht nur, um uns in anstrengenden Seillängen zwischenzeitlich zu erholen, sondern auch, um den weiteren Routenverlauf und die kommenden Bewegungsabfolgen bereits vom Rastpunkt aus gedanklich vorweg zu nehmen. Schwere Stellen versuchen wir anschließend möglichst zügig zu überklettern. Wer mehr Erfahrung im Einschätzen von logischen Routenverläufen hat und über eine bessere Bewegungsvorstellung verfügt, kann unnötig schwere Züge und Verhauer vielfach im Vorhinein bereits ausschließen.

Psyche

Beim Alpinklettern sind wir ob der Länge und Ausgesetztheit der Tour, der Ungewissheit über den Routenverlauf oder der zum Teil fragwürdigen Absicherung angespannter als im Klettergarten oder in der Halle. Damit sich ein erhöhtes Stressniveau nicht auf die Bewegungskoordination oder gar auf die Wahrnehmung von Risiken auswirkt, gilt es, erst gar keinen Stress aufkommen zu lassen bzw. ihn rechtzeitig zu erkennen, um effektiv gegenzusteuern zu können. Praktiken zur Selbstregulation helfen uns, um ein vorhandenes Bedrohungsgefühl zu verringern. Sie bauen Stress ab und erhöhen unsere Erfolgsaussichten in schwierigen Situationen. Rituale wie das Ausknobeln desjenigen bzw. derjenigen, der/die die erste Seillänge vorsteigt, oder das Chalken vor dem entschlossenen Angehen der Schlüsselstelle geben uns Sicherheit und Orientierung in herausfordernden Situationen.

Durch das Visualisieren der Schlüsselstelle oder das Erreichen des Gipfels nehmen wir gedanklich und körperlich bereits die tatsächliche Tätigkeit vorweg, was uns besser auf die anstehenden Erfordernisse vorbereitet. Von diesen positiven Auswirkungen des Verinnerlichens sind die häufig auftretenden Phänomene wie Risk-shift (Gruppen entscheiden risikofreudiger als Einzelpersonen) und Finaldenken (ballistisches Handeln) unbedingt zu trennen. Riskanten Entwicklungen können wir mithilfe ehrlicher Kommunikation mit dem Seilpartner/der Seilpartnerin entgegenwirken, Finaldenken mittels richtiger Zieldefinition.

Bei zunehmender Müdigkeit ist es wichtig, gegen den damit einhergehenden Konzentrationsverlust durch positives Denken – „Ich kann das!“ – anzukämpfen oder den eigenen Gedankensinn z.B. durch Selbstgespräch oder Benennung der gerade ausgeführten Tätigkeit zu besetzen: „Da steh ich gut und der nächste Griff ist ein Henkel“. Entspannungs- und Atemübungen sowie die eigene Körperhaltung beeinflussen das persönliche Befinden – und umgekehrt. Ausgesetztheit und weit auseinander liegende Sicherungspunkte können dafür sorgen, dass auch Kletterer und Kletterinnen, die im Klettergarten problemlos an der Sturzgrenze klettern, die Sturzangst beim Alpinklettern unter bestimmten Umständen entgegen der realen Situation als lebensbedrohlich empfinden. Mithilfe systematischen Desensibilisierens können wir die stets als real empfundene Sturzangst auch im alpinen Gelände ein Stück weit verringern. Dazu zählt unter anderem, dass wir uns gleich in der ersten Seillänge ins Seil setzen oder sogar einen kleinen Sturz wagen, um das Vertrauen in das Material und den Seilpartner/die Seilpartnerin zu stärken, sofern das Gelände und die Absicherung dafür geeignet sind. Im Nachstieg können wir unsichere Züge an der Sturzgrenze wagen und uns nicht wie gewohnt frühzeitig ins Seil setzen, wenn wir die Sturzsituation an sich als unproblematisch einstufen.

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Gerhard Mössmer ist Berg- und Skiführer, Mitarbeiter in der Abteilung Bergsport und zuständig für Lehrschriften und Lehrteam.

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