Ein Stöpsel-Abenteuer
Wir sind unterwegs mit Jugendlichen. Zwei Mädels teilen sich die Ohrstöpsel zum Musikhören. Stell ich mir unbequem vor auf einem schmalen, steilen Pfad.
Nehmt doch die Stöpsel aus den Ohren… Aber wir brauchen unsere Musik…aber ihr hört nix, nicht, was um euch herum passiert – die anderen nicht – uns nicht – nicht, was euch umgibt…und ist das nicht unbequem? – Macht nix…
Wir kommen zurück.
…Da fehlen zwei, die Mädels mit den Stöpseln. Handy? Geht nicht – Kein Netz oder Akku leer(gehört)… Wo können sie verloren gegangen sein? Uns ist bald die einzige Stelle klar, wo’s passiert sein kann. Beim Überqueren eines Almwegs muss der breite Weg bergab verlockender gewesen sein als der versteckte Pfad. Wo der Weg auf die Straße trifft, finden wir sie dann auch. Sie haben wirklich nix mitgekriegt – vor mir… hinter mir…hör ich nix… seh ich nix…
Nichts ist passiert, im schlimmsten Fall hätten die beiden einen langen Straßenhatscher vor sich gehabt. Die Eltern finden, das geht nicht. Da haben sie wohl recht. Aber: Die Geschichte würde in das Buch „Missgeschicke“ passen. Aus Missgeschicken lernt man. Die einen, sich nicht von ihrer Umgebung abzuschotten, die anderen… ja was? Aufs Ausstöpseln bestehen? Dauernd durchzählen? Niemanden eigenverantwortlich unterwegs sein lassen?
Im Rückblick denke ich, das war für die beiden Mädels ein Abenteuer, von dem sie noch lang zu erzählen haben. (Für uns übrigens auch…).
Nimm die Stöpsel aus den Ohren…
Über dieses „Stöpsel-Abenteuer“ haben wir oft nachgedacht, gesprochen. Es ist eine Metapher. Eine Metapher für Dinge, die unsere Aufmerksamkeit besetzen. Abziehen von dem, was das Hier und Jetzt an Aufmerksamkeit fordert und verdient. Eine Metapher für Lernen aus Erfahrung. Eine Metapher dafür, welche „Stöpsel“ unsere Lebenswirklichkeit Jugendlichen, Kindern und Eltern in die Ohren steckt. Und da sind auch noch die Stöpsel in unseren eigenen, den Beg-Leiter*innen-Ohren.
Stöpsel in unseren Ohren?
Bei den Erwartungen von Seminar-Teilnehmer*innen, auch in Projektplanungen, tauchen „Spiele“ immer wieder an prominenter Stelle auf. Das Gerüst für den Plan im Kopf ist oftmals eine Abfolge von Spielanleitungen, selbst dann, wenn Ziele definiert werden, die man anders besser erreicht (Aufmerksamkeit für den Lebensraum z.B.). Aber: „Erstens kommt es anders…“ Anna und Joanna berichten von einem lässigen Tag, der aus dem Plan gelaufen ist. Die beiden „…sehen es als Geschenk, die Dynamiken in ihrer Jugendgruppe zu beobachten…“(Bergauf 01/2021, Seite 6/7)
Es gehört Mut dazu und Selbstvertrauen, eine Veranstaltung aus dem Plan laufen zu lassen. Genau das wollen wir doch weitergeben: Mut und Selbstvertrauen. Wir wollen Kinder und Jugendliche – in unseren Seminaren auch Eltern – Selbstwirksamkeit spüren lassen. Wenn aber unser ausgetüftelter Plan uns taub macht für das, was sich dynamisch entwickelt, dann sollten wir die Stöpsel aus den Ohren nehmen.
Zugestöpselt?
Auch Kinder sind manchmal zugestöpselt. Von ihrem Alltag, in dem Fernsehen, Computerspiele, die ganze Internet-Industrie die Lebensrealität dominieren. Da fällt mir das Camp-Kind ein, das sehr enttäuscht war, dass es keinen Fernseher gab – und nach dem ersten Abend ganz bewusst und ausdrücklich drei Dinge in seinen Erfahrungsschatz speichern konnte, von denen es vorher keine Ahnung hatte: Dass man Wasser aus dem Bach trinken kann. Dass man an einem Steckerl Würstl braten kann. Dass man in den Bach fallen und nass werden kann, ohne dass deshalb jemand in Panik gerät.
„Was hast du beim Camp gelernt?“, war eine Frage auf unseren Evaluationsbögen. „NIX“ –hat einer hingeschrieben. Wir haben das als Kompliment genommen. Weil man am besten lernt, wenn man’s nicht merkt.
Keine Stöpsel
Wir wollen, dass der Umgang mit und in Naturräumen selbstverständlich zu den kindlichen Lebenswelten gehört. Wir haben dafür gute, oft diskutierte Gründe. Die Frage ist, ob es irgendwann zu spät ist. Ob man durch künstliche Welten so „zugestöpselt“ werden kann, dass „Natur“ nicht mehr „gehört“ werden kann und nicht mehr wirkt? Durch die Überflutung mit irgendwelchen Reiz-„Hämmern“ – grob, laut, vorgekaut, fremd-inszeniert – verliert man vielleicht mit der Zeit das Gefühl für Subtiles, Sanftes, Persönliches…?
So wie man eine falsche Vorstellung von Naturräumen entwickelt, wenn man sie nur aus Universum-Filmen kennt?
Natur selber entdecken und erleben, fordert persönlichen Einsatz. Animationsangebote kann man einfach konsumieren. Locken dann nur noch künstliche, käufliche „Abenteuerwelten“ ohne Risiko (nicht mal zum Nass-Werden) jemanden hinter dem Computer hervor ?
Ich glaube das nicht. Ich will es nicht glauben. Meine Erfahrungen sprechen dagegen. Aber wahrscheinlich leben wir im Alpenverein mit unseren Teilnehmenden auch auf einer Insel der Seligen – in unserem Lebensraum mit vielen Angeboten, die persönlichen Einsatz fordern und dafür den Erfahrungsschatz füllen.
Wahrscheinlich ist es so, wie in vielen anderen Zusammenhängen auch: Die, die es wirklich brauchen, kommen nicht. Wie können wir sie ansprechen?
Stöpsel in Eltern-Ohren
Mütter und Väter, die eine Familiengruppe beg-leiten oder aufbauen möchten, haben naturgemäß unterschiedliche Motivationen. Sie sind auch unterschiedlich „Natur-vertraut“. Immer aber möchten sie ihren und anderen Kindern Räume öffnen: für Erfahrungen mit sich selber und dem eigenen Körper, der Natur und für soziale Erfahrungen in einer altersgemischten Gruppe. Dazu müssen wir den Rahmen bereitstellen. Das ist das Eine. Das Andere ist die Wirkung des Naturraums, der müssen wir Raum und Zeit geben.
Je vielfältiger der Naturraum ist, je unmittelbarer ist sein Aufforderungs-Charakter für Bewegung und eigenverantwortliches Ausprobieren, je mehr Wissen-Wollen passiert angesichts vieler spannender Fragen, umso schneller geht’s. Jedenfalls bei den Kindern. Eltern können manchmal etwas zögerlich sein. Da geht das Rad im Kopf vor der Nacht im Freien. Wie ist das mit dem Zähneputzen? Werden wir frieren? Gibt’s da Ameisen? Fürchtet sich mein Kind im Dunklen…?
Für uns Ausbildende ist es manchmal schwierig, einfach zu warten. Mut zu machen, es einfach mal zu probieren. Den Kindern was zu-Muten und zu-Trauen. Erwachsenen-Vorbehalte über Bord gehen lassen. Manchmal dauert es seine Zeit, bis die Stöpsel ganz von allein aus den Ohren ploppen.
Raus mit den Stöpseln!
Da ist noch der Lern-Stöpsel: Befürchtungen, dass „einfach draußen“- Zeit dann „verlorene Zeit“ sein könnte. Ohne Erwachsenen-Plan zum Lernen, Trainieren, Üben. Vielleicht liegen bleibende Schul-Aufgaben.
Seid mutig! Macht (Natur-)Beziehungs-Erfahrungen möglich. Gebt dem selbstorganisierten Erfahrungslernen Raum und Zeit! Den größten Anteil dessen, was wir zum Leben brauchen, lernen wir „nebenbei“. ( Einwanger, DREI D 01/21, S. 7)
Quellenangabe:
- Dewald, W., Kraus, L.; Schwiersch, M.: Missgeschicke. Eine Sammlung erlebnispädagogischer Praxisfälle. Eigenverlag Dewald/Kraus/Schwiersch 2003
- Pramstaller, M., Einwanger, J.: Ein Bild vom Tun. DREI D 01/2021, S. 6-8
- Kornacki,J., Repple, A.: Erstens kommt es anders, Bergauf 01/2021 S.6-7
Biologin, Beauftragte für Kinder und Familien, Mutter und Großmutter und am liebsten draußen unterwegs.
Comments are closed.