Bergsport in allen seinen Facetten erfreut sich immer größerer Beliebtheit: Die Menschen zieht es in die Berge, sie suchen Ausgleich, Naturerlebnis und sportliche Herausforderung; traumhafte Ausblicke und wunderbare Fotos füllen Postfächer von Freund*innen und (sozialen) Medien.
Aber auch Notfälle, Unfälle und Naturereignisse am Berg fordern ihren Tribut – nicht selten sind Verletzte oder gar Tote zu beklagen. Die Kameradenbergung, Erste Hilfe-Leistung, notärztliche Versorgung, Transport mit Rettungswagen oder Hubschrauber sowie die Behandlung im Krankenhaus sind verständliche und bekannte Abläufe für jedermann/-frau und werden immer wieder – auch in den Ausbildungen der Alpenverein-Akademie – thematisiert und verinnerlicht.
Unfälle & Notfälle und wie wir damit umgehen
Was abseits von körperlichen Verletzungen bei den betroffenen Menschen, den Verletzten an sich, aber auch den anderen Gruppenmitgliedern, Ersthelfer*innen und Gruppenleitungen durch Unfälle und Notfälle ausgelöst oder belastet wird, ist seit jeher sehr viel weniger Thema in der öffentlichen Diskussion und auch in der Ausbildung. In diesem Beitrag wollen wir den Blick auf die ganzheitlichen Auswirkungen und Erfordernisse bei Alpinunfällen lenken und auch die psychosoziale Dimension skizzieren.
Unfälle und Notfälle sind immer „ungeplante“ Erfahrungen und Herausforderungen, lediglich in den Erste Hilfe-Kursen versuchen wir uns auf die medizinischen Notwendigkeiten vorzubereiten und die erforderlichen Schritte und Handgriffe zu lernen und zu üben. Diese Vorfälle sind aber fast immer auch für unsere Psyche „ungeplant“ und folglich haben wir oft keine adäquaten Möglichkeiten des Umgangs mit Verletzungen, Not, Angst, Schmerz und Tod griffbereit.
Ein derartiger Vorfall sprengt also den Rahmen unserer bisherigen Erfahrung; je nachdem, wie sehr uns ein Notfall am „linken Fuß“ erwischt, wirkt er sich auch psychisch bei den Betroffenen aus. Nicht das Ausmaß des Unfalls (Schweregrad der Verletzung, Anzahl von Opfern, etc.) ist primär für die Heftigkeit der psychischen Reaktion maßgeblich, sondern vielmehr das Ausmaß der erlebten Ohnmacht und Hilflosigkeit in der Situation selbst in Verbindung mit der individuell befürchteten oder wahrgenommenen Verantwortung (Schuld) für den vorliegenden Notfall.
Insofern kann man durchaus davon ausgehen, dass sich beispielsweise die Übung bei der LVS-Suche, die erworbenen Erste Hilfe-Kenntnisse sowie die erlernten Tools und Abläufe im Notfallmanagement mit Gruppen und damit die kompetente(re) Bewältigung einer Notfallsituation auch positiv auf eine geringere psychische Belastung durch den Vorfall auswirkt, weil die verspürte oder befürchtete Hilflosigkeit dementsprechend geringer ausfällt.
Notfälle und kritische Situationen können für alle Beteiligten zur Belastung werden, vor allem, wenn sie den normalen Erfahrungshorizont überschreiten. Ein/e Verunfallte/r, Helfer*in und Retter*in, der/die Angehörige oder Augenzeuge bzw. –zeugin – sie alle können dabei an einen Punkt geraten, an dem sie das Erlebte nicht mehr ausreichend verarbeiten können. Umso wichtiger ist es bekannterweise, sich immer wieder mit genau diesen Trainings und Vorbereitungen auseinanderzusetzen, zu trainieren und zu üben. Indirekt ist das in der Folge auch eine Art „Prävention“ für die psychischen Belastungen einer Notfallsituation.
BELASTUNGSSITUATIONEN. OHNMACHT. HILFLOSIGKEIT
Folglich kann es durch die in Notsituationen erlebte Ohnmacht und Hilflosigkeit – abhängig auch von unserem Weltbild, unserer Lebenserfahrung sowie unseren Schutzmechanismen und erlernten Verarbeitungsstrategien – zur akuten Belastungsreaktionen kommen. Das sind „normale“ Reaktionen auf ein „unnormales“ Ereignis wie zum Beispiel einen Bergunfall, die bereits in der Unfallsituation oder im Verlauf der nächsten Stunden und Tage auftreten und geraume Zeit andauern können.
Viele unterschiedliche Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen sind individuell unterschiedlich möglich: von anfänglich häufig bekannten Reaktionen wie einem Zittern, Schwitzen, Schwierigkeiten sich klar auszudrücken, Konzentrationsproblemen kann es in weiterer Folge zu Schlafstörungen, Ängsten und Panikattacken, Nervosität, Abstumpfung und depressiven Symptomen, aber auch kognitiven Problemen wie eingeschränkter Merkfähigkeit kommen. Auch zahlreiche körperliche Symptome wie Krankheitsanfälligkeit, Verdauungsbeschwerden und hoher Blutdruck sind mögliche Folgen.
Besonders häufig kommt es zu sogenannten Intrusionen (Wiedererleben von Bildern, Eindrücken, Gerüchen, Tönen aus der Unfallsituation oder von Details oder Momenten daraus), die sich realitätsnah oder verzerrt ungewollt aufdrängen, aber auch in Träumen wiederkehren können. Auch kann es in weiterer Folge zu Verhaltensveränderungen im Essund Trinkverhalten, dem sonstigen Alltags(er)leben sowie zu Substanzmissbrauch, sozialem Rückzug und Aggressionen kommen. Stressreaktionen klingen in der Regel nach ein bis zwei Wochen ab.
Dauern sie über Monate an, kann sich eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln. Bei Anzeichen für Schwierigkeiten bei der Stressverarbeitung sollte immer professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden. Für künftige Bergtouren oder auch im Besonderen für das weitere führen von Touren ist es besonders wichtig und auch hilfreich, belastende Erfahrungen, entstandene Ängste, Zweifel und Unsicherheiten professionell zu bearbeiten.
So wird weiterhin ein positiver Zugang und damit ein erfreuliches und erfüllendes Bergerlebnis ermöglicht oder im beruflichen Kontext auch die Arbeitsfähigkeit im Beruf weiterhin gewährleistet. Wenn aus negativen Erfahrungen und deren Bewältigung die innere „Alarmanlage“ geschärft und justiert wird, kann bei guter Verarbeitung durchaus auch ein zusätzlicher Gewinn für mögliche künftige alpine Herausforderungen gemacht werden.
ANGEBOTE UND HILFESTELLUNG
Unterstützung für betroffene Ersthelfer*innen, Gruppenleitungen und Gruppenmitglieder gibt es in jedem Bundesland in unterschiedlichen Organisationen. (https://plattform-akutbetreuung.at/ ) Der ÖAV bietet seinen Tourenführer-, Familiengruppen- und Jugendleiter*innen einen besonderen „Service“ an: Für sie organisiert die ÖAV-Notfallhotline u.a. eine professionelle psychosoziale Nachsorge am Notfallort oder direkt in ihrem Wohnort an. Dazu gibt es seit dem Jahr 2020 eine Kooperation mit der Krisenhilfe Oberösterreich – www.krisenhilfeooe.at, die diese psychosoziale Nachsorge nun österreichweit für ehrenamtlich geführte Sektionsveranstaltungen des Alpenvereins anbietet.
NOTFALL-HOTLINE DES ÖSTERREICHISCHEN ALPENVEREINS. WANN ALARMIEREN?
Ob alarmiert wird, liegt im Ermessen des Funktionärs bzw. der Funktionärin. Jedenfalls alarmieren, wenn jemand verletzt (notärztliche Versorgung bzw. Krankenhausaufenthalt notwendig) oder getötet wurde. Immer auch dann die Notfall-Hotline in Anspruch nehmen, wenn es zu einer polizeilichen Befundaufnahme und Einvernahme kommt. Telefonnummer: Die Telefonnummer der Notfallhotline ist rückseitig auf dem Funktionärsausweis zu finden, der jährlich verschickt wird.
Vorgang:
Der/Die ÖAMTC-Mitarbeiter*in füllt ein Online-Formular aus, das per SMS und per E-Mail an das Bereitschaftsteam des Alpenvereins versendet wird. Der/Die Erste, der/die die Nachricht liest, übernimmt die Organisation des weiteren Ablaufs. Es erfolgt ein Rückruf an den/die Kursleiter*in und gemeinsam werden die zu treffenden Maßnahmen festgelegt:
1. Rechtsberatung
Achtung: Bitte immer vor der offiziellen Protokollaufnahme durch die (Alpin-)Polizei mit einem/r Rechtsvertreter* in aus dem Hotline-Team Rücksprache halten.
2. Erhebung der Unfalldetails durch einen Privat-Sachverständigen
3. Psychosoziale Hilfe
Als Kriseninterventionsteam stehen dem Alpenverein erfahrene Expert*innen zur Verfügung, die bei der Bewältigung traumatischer Ereignisse helfen können.
4. Pressesprecher
Besonders bei schweren Unfall-Ereignissen ist professionelle Pressearbeit von großer Bedeutung. Bitte keine vorschnellen Gespräche mit Medienvertretern!
Erste Hilfe Outdoor – Kurse
Der Österreichische Alpenverein hat eine eigene Ausbildungsreihe in Erste Hilfe & Notfallmanagement. Diese umfasst sechs Tage in zwei Modulen. Die Seminare zu Notfalltraining für die Gruppenleitung im Outdoor-Bereich können auch einzeln besucht werden. Gebucht wird über die Alpenverein-Akademie.
Im Notfall kompetent sein – ein gutes Gefühl für Leitung und für Teilnehmer*innen. Bei einem Missgeschick mit Verletzungsfolge spielen viele Faktoren eine wichtige Rolle, wie etwa Verletzungsart, Gelände, Kooperation mit dem Rettungsdienst und Gruppensituation. Neben Ersthelferfähigkeiten zählt vor allem die eigene Notfallkompetenz im Spannungsfeld von „Unfall- Leitung-Gruppe“. Genau darauf zielen die Kurse.
ist Rettungssanitäter, Trainer für Notfall- und Krisenmanagement, gerichtl. beeideter Sachverständiger, Mitglied im Bundeslehrteam „Erste Hilfe und Notfallmanagement“ Koordinator psychosoziale Nachsorge / Notfallhotline
Alpenverein.
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