Des einen Freud, des andern Leid
Es ist ein zapfig kalter Tag, die ganze Nacht hat’s geschneit – und heute: Powder vom Feinsten! Wer will da nicht möglichst schnell raus, auf den Berg und ins Gelände? Doch Respekt ist geboten – denn dort (über)leben noch andere.
8.30 Uhr, Schauplatz Bergstation Freerider so: Geil, noch alles unverspurt. Nichts wie rein in den jungfräulichen Powder. Airbag-Rucksack geschultert, Pieps an, Helm auf, ab geht’s.
Zur gleichen Zeit im Waldstück Mittelstation…Meister Lampe so: Bin zwar schon einige Stunden wach und hab ein bisschen Gras geknabbert. Wirklich ergiebig war’s aber nicht. Wollt jetzt eigentlich nochmal chillen, doch die Gondel rattert schon wieder. Und das Gschrei von die Leut. Alarmmodus on! In Bewegung bleiben!
10.30 Uhr, zurück an der Bergstation Freerider: Yes, die erste Line war so gut. Gleich nochmal in denselben Hang. Nur…verdammt. Jetzt ist der schon so zerpflügt. Und da kommen schon die Nächsten. Shit.
11.30 Uhr, Waldstück Mittelstation Freerider: Oh yeah, hier ist alles noch frei und wie deeeeep der Powder. Nichts wie rein. Wohoooo DIE Pillows!
Ein paar hundert Meter weiter … Meister Lampe: Zum Glück, endlich ein ruhiges Platzerl gefunden. Eh ned schlecht hier, hoffentlich spottet mich nur der fiese Greifer da oben nicht.
12.30 Uhr, Bergstation Freerider: Shit, jetzt zieht auch noch Nebel rein, die Sicht wird duster. Leute, ab in den Wald!
Zur gleichen Zeit im Waldstück … Meister Lampe irritiert: Woher auf einmal das Rattern und die Rotorengeräusche? Was einen verfluchten Lärm der Heli macht. Nichts wie weg, im Zickzack. Jetzt nur bitte nicht gesehen werden – von den Stärkeren. Bitte. Bitte.
13.00 Uhr, Tatort Waldstück Freerider: Hat sich gelohnt, da stechen wir nochmal rein, Leute. Die Schneise ist perfekt!
Meister Lampe: Das war zu viel des Guten. Mensch, bin ich müd. Jetzt erst mal Kräfte sammeln. Oh nein, nicht schon wieder. Nichts wie weg… links, rechts, rüber, runter. Da kommen sie von allen Seiten. Wohin denn? Weiter vor, zurück. Leute!!!! Ich kann nicht mehr …
Und unweit davon … Wumms, Meister Lampe fällt erschöpft um. Hirschkuh frisst genüsslich an der Fütterung. Laaangsam kauen, guuuut verdauen. Kräfte sammeln. Dann wieder dösen. Und verdauen. Woher der Lärm? Wer sind denn die? Ich muss weg. Doch Shit, Hunger hätt‘ ich noch. Furchtbar anstrengend ist das… ein paar Meter noch durch den Schnee… verdammt, ich stecke. Noch mal probieren… naaaaein, ich komm nicht vor, nicht zurück…
Am Berg ist man nie allein
So oder so ähnlich mag es sich zutragen, wenn die Lebensrealitäten von Freerider*innen und Wildtieren aufeinanderprallen. Und das tun sie im wahrsten Wortsinn. Mitten im intensiv genutzten Skigebiet haben Wildtiere im Wald oft ihren letzten Rückzugsort. Deshalb ist das Befahren von Waldflächen im unmittelbaren Umkreis von Aufstiegshilfen und Pisten (500 Meter-Radius) per Gesetz verboten.
In der Praxis halten sich wenige daran. Waldflächen sind oft die Verlängerung von Skigebieten, erst recht, wenn powderenthusiastische Freerider*innen im freien Gelände keine guten Sichtverhältnisse oder lawinengefährliche Bedingungen vorfinden. Dann liegt das Ausweichen auf bewaldete Flächen nahe.
Dass der Mensch im Dickicht in erster Linie einen Störfaktor darstellt, ist leider den wenigsten bewusst. Die meisten Wildtiere schalten in der kalten Jahreszeit auf Energiesparmodus um. Nahrung ist aufgrund der durchgängigen Schneedecke spärlich vorhanden. Die Kälte zehrt. Und jede Fortbewegung kostet wertvolle Energie, die eigentlich fürs Futterbeschaffen und Flüchten vor Fressfeinden gebraucht wird.
All jene, die schon einmal in die leidliche Situation gekommen sind, im meterhohen Schnee einen Ski verloren zu haben und hiken zu müssen, wissen, wie kräfteraubend ein solches Unterfangen ist. Ähnlich muss es sich für Wildtiere anfühlen, wenn sie aufgeschreckt und zur Flucht gezwungen werden.
Eine Gämse, die Reißaus nimmt, verbraucht in 50 Zentimeter hohem Schnee 60 Mal mehr Energie als bei normaler Bewegung. Ein aus seinem Schneeloch verscheuchtes Birkhuhn verharrt meist mehrere Stunden in Bäumen, bevor es von neuem beginnt, sich einen Unterschlupf zu graben. Das heißt: Jede Störung kann zur potenziellen Todesfalle werden… vor allem, wenn sie öfter vorkommt.
Die gute Nachricht: Mit etwas Rücksichtnahme kann Leid minimiert werden. Etwa, indem man die Zäune, Warnhinweise und Tafeln zu Lenkungsmaßnahmen im Gelände ernst nimmt und auf den vorgesehenen Freeride-Korridoren bleibt. Und indem man sich immer wieder ins Gedächtnis ruft: Am Berg ist man nie allein!
Wen störe ich wo?
Im Wald halten sich Birk- und Auerhuhn auf. Sie überdauern die kalte Jahreszeit in selbst gegrabenen Schneehöhlen, die sich meist in der Nähe von Gebüschen oder Zwergsträuchern befinden. Um flugfähig zu bleiben (was etwa in Fluchtsituationen entscheidend ist), fressen sie sich keine Fettschicht an, sondern fahren ihren Energiehaushalt auf ein Minimum zurück.
Nur zur Futteraufnahme verlassen sie ihren Unterschlupf – und das bevorzugt an den Tagesrändern in der Dämmerung. Dann ist der Schutz vor natürlichen Feinden aufgrund des diffusen Lichts am größten. Von Touren zum Sonnenaufgang und späten Abfahrten sollten Freerider*innen und andere Wintersportler*innen daher unbedingt ablassen. Während des Liftbetriebs haben die Tiere ohnehin genug der Lärmeinwirkung.
Aber auch die Bereiche oberhalb der Baumgrenze sind nicht ganz unbewohnt. Grate und Rücken sind das Territorium des Schneehuhns und des Gams- und Steinwilds. Wie ihre gefiederten Artgenossen vergraben sich Schneehühner in Schneelöchern und verlassen ihre Komfortzone nur, um Nahrung zu fassen. Die gibt mit ein paar Trieben und Nadeln im Winter nicht viel her. Es heißt daher: sparsam haushalten, Ressourcen schonen.
Steinbock & Co
Der Steinbock bewegt sich überhaupt am wenigsten: Er schläft bis mittags und reduziert seine Bewegungsaktivität auf die Hälfte im Vergleich zum Sommer. Dicke, über Monate angefressene Fettreserven machen es möglich. Um so wenig Energie wie möglich zu verlieren, halten sich Gams- und Steinwild an schönen Tagen gerne auf sonnigen Felsrücken auf. Sichtet man ein Tier, sollte unbedingt Abstand genommen werden.
Das gilt übrigens für alle Wildtiere im Winter. Zwar kann das Entdecken von Schneehase und Co. ein besonderes Erlebnis sein – damit es für das Gegenüber aber nicht zum Horror wird, bitteschön besser aus der Ferne. Und ja nicht den Tieren oder Tierspuren mit Ski und Snowboard folgen.
Zu guter Letzt ist im Bergwald auch noch das Rotwild daheim. Es verbringt täglich acht bis neun Stunden in Ruhe. In dieser Zeit senkt sich die Herzfrequenz um etwa die Hälfte auf weniger als 30 Schläge pro Minute, ebenso die Temperatur in den Randbereichen des Körpers von 35 Grad auf ca. 15 Grad. Durch den reduzierten Stoffwechsel sparen sich die Tiere bis zu 40 Prozent an Energie.
Um durch den Winter zu kommen, hält sich Rotwild bevorzugt in der Nähe von Fütterungs- und Einstandsbereichen auf. Wird es von dort vertrieben, muss einerseits der Stoffwechsel binnen kürzester Zeit wieder hochgefahren werden – was erst recht Energie frisst -, andererseits suchen sich die Tiere an anderer Stelle Nahrung. Als Futter dienen nicht selten die Rinde von Bäumen oder junge Triebe.
Das wiederum kann Schäden am Wald verursachen. Aufmerksame Leser*innen merken: So kommt eins zum andern und ein ganzes Ökosystem aus dem Takt. Damit dies nicht passiert, sollten Futterstellen großräumig umgangen und ja nicht befahren werden.
Was können Kanten anrichten?
Schließlich sind Ski- und Snowboardkanten auch für Jungbäume eine Bedrohung. Jungwald mag von außen verlockend erscheinen – eine Schneise etwa, mit einer Reihe von eingeschneiten Pillows, lädt Freerider*in zum Eintauchen ein – doch die Bäume werden leicht durch scharfe Kanten verletzt. Die volle Tragweite kommt dann oft erst in den wärmeren Monaten ans Licht. -Und in den kommenden Wintern: Denn ein lichter Wald bietet weniger Schutz vor Lawinen und Steinschlag und wird so letztlich zum Risiko auch für Bergsportler*innen. Das Befahren von Jungwald mit einer Wuchshöhe von unter drei Metern ist übrigens gesetzlich verboten.
Zurück zum Berg …
16.00 Uhr, Liftbetrieb-Ende
Aufatmen für Meister Lampe, Hirschkuh und Co. Kräfte sammeln und ausruhen, bis der nächste Powdertag anbricht.
Und der Freerider? Der macht Dasselbe. Erholen, Kraft tanken und am nächsten Tag mit ein bisschen weniger Tempo, dafür mehr Rücksicht ausrücken.
Theresa Girardi ist Mitarbeiterin in der Abteilung Raumplanung und Naturschutz des Österreichischen Alpenvereins.
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