Diskussionen über Freiräume gibt es in der Pädagogik schon lange. Wagen wir einen Blick zurück, finden wir uns bei den Reformpädagog*innen des 19. und 20. Jahrhunderts und den Fragen nach dem Kindgemäßen wieder. Es ging – waghalsig zusammengefasst – um das Maß an (notwendiger) Vorgabe, Anleitung und Kontrolle sowie die Anerkennung von Kindern als kompetente Menschen. Ihr merkt: Hier schwingen Fragen zu persönlicher Entwicklung, Gehorsam oder Selbstbestimmung mit. Diese grundsätzlichen Fragen begegnen uns selbstverständlich auch 100 Jahre später: in der Schule, Familie, Elementarpädagogik oder der Jugend- und Familienarbeit.

 

Was macht Freiräume aus?

Teilen wir den Begriff für eine erste Annäherung in „Frei“ und „Raum“. „Frei“ können Eigenschaften wie „ohne Einschränkungen, unabhängig von anderen, von bestimmten Aufgaben entbunden und nicht eingesperrt bzw. nicht kontrolliert meinen“ (Peyerl, Züchner, 2019, S. 382). ebd.) Auch der „Raum“ ist bei genauerem Hinsehen vielfältig.

 

Uns interessieren hier weniger der umspannte Raum eines geometrischen Körpers, sondern territoriale und vor allem in Alltagsbeziehungen durch Menschen und ihre Interaktionen entstehende Räume. Entsprechend werden Freiräume häufig als Spielräume, Experimentierräume, kontrollfreie Räume oder Räume zur eigenen Gestaltung verstanden. In diesem Verständnis kann „Freiraum (…) über Raum, Zeit und Selbstbestimmung konzipiert werden“ (ebd. S 379).

 

Freiräume in der Alpenvereinsjugend?

Ich erinnere mich, wie der Begriff Freiraum – nicht das Thema – in die Alpenvereinsjugend eingezogen ist. Wir saßen 2019 an der Planung des Fachsymposiums Verantwortung ermöglichen und fanden, dass Freiräume in unseren Programmen und Ausbildungen einen wichtigen Bestandteil einnehmen, aber auch, dass dies Kindern und Jugendlichen mehr und mehr fehlt. Zusammengefasst haben wir damals:

Die Alpenvereinsjugend weist als Jugendorganisation seit vielen Jahren darauf hin, dass Kinder und Jugendliche für ihre gesunde Entwicklung Freiräume brauchen. Freiräume, in denen sie selbst Verantwortung übernehmen können, Freiräume für unbeaufsichtigtes Spielen, egal, ob draußen in der Natur oder vor der Haustüre. Freiräume für die Ausübung von Risikosportarten.

Freizeit als Voraussetzung für Freiraum?

Ja. Freizeit ist nicht nur Nicht-Arbeit, sondern auch als frei verfügbare und selbstbestimmbare Lebenszeit zu verstehen. (Opaschowski, S. 785) Der Trend zur verplanten und pädagogisch inszenierten Kindheit – aktuell sind kindliche Terminkalender an Nachmittagen ganz schön dicht und professionell vorbereitet – fühlt dieser Voraussetzung ziemlich auf den Zahn.

Freiräume Slackline

Was kann ich mir unter Selbstbestimmung vorstellen?

Allgemein meint Selbstbestimmung „die Bestimmung des Menschen über das eigene Wollen, Werden und Tun“ (Tenorth und Tippelt 2012, S. 649). Selbstgestaltung oder ein Gefühl der Selbstbestimmung kann wohl mit einer Schaukel gezeichnet werden: Auf einer Seite die Kontrolle, der Zwang, auf der anderen die freie Wahl. Besonders für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen interessant: Selbstbestimmungsmöglichkeiten als Forderung bei gleichzeitiger Entwicklung der dafür notwendigen Fähigkeiten (Peyerl, Züchner, 2019, S. 385).

 

Ist Freiraum beliebig?

Nein. Wir sprechen hier gerne von Raum mit Rahmen. Ein Rahmen begrenzt und muss je nach Alter unterschiedlich sein und größer werden. Weiter sind Personen wichtig (Eltern, Lehrpersonen, Jugend-, Familiengruppenleiter*innen, Bezugspersonen), die unmittelbar da oder eben zu erreichen sind. Für diese gilt aber: sich zurücknehmen, nicht ständig verbessern oder anleiten wollen.

 

Zeit für eine Auszeit?

In Freiräumen entsteht Zeit. Zeit, um mit sich zu sein, vielleicht auch bei sich zu sein. In der Familien- und Jugendarbeit können wir darauf achten, diese Zeit zu ermöglichen, zu entschleunigen und sich als Leiter*in Zeit zu geben: Wir können eine Auszeit arrangieren. Selbst über Zeit verfügen zu können oder ohne die Struktur der Zeit zu sein, kann aber auch irritierend und ungewohnt sein. Eine Herausforderung, aus der in unseren Angeboten vieles entstehen kann.

Freiräume Alpenvereinsjugend

Geht Freiraum überall?

Eigentlich ja. Freiräume werden erlebt und sind nicht zwingend an konkrete Räume gebunden. Jedoch sind die Möglichkeiten, freie Zeit selbstständig zu gestalten, von den jeweiligen Orten abhängig (Peyerl, Züchner, 2019, S. 383).

 

Freiraum schaffen – ein Widerspruch?

Freiräume können selbstverständlich auch vorbereitet werden. So wie es das Konzept einer vorbereiteten Umgebung in verschiedenen pädagogischen Feldern gibt, leitet die Spielplatz-, Landschaftsplanung und Stadtplanung unter anderem die Frage, wie Spiel- und Aufenthaltsräume als möglichst unstrukturierte und damit selbst gestaltbare Räume geschaffen werden können.

 

Kindlicher Freiraum

Freiraum ist Raum für selbst initiierte und selbstbestimmte Erfahrungen: körperlich, mit Gegenständen oder Material, mit anderen Kindern. Neben günstigen Erfahrungen ist hier auch Raum zum Scheitern, Raum für Ungünstiges: Stürzen, Streit, Langeweile.

 

Freiraum Wald?

Der Wald, zum Beispiel, ist wohl das Heimspiel im Heimspiel, wenn Freiraum den Platz betritt. Baumstämme, Stöcke, Laub, Steine zum Klettern, ein Bach zum Spielen, viel Bewegung und Sinneserfahrungen: Diese wunderbar unstrukturierte Umgebung und die einfache Möglichkeit, Zeit zu geben, um im freien Spiel zu versinken, scheint unmittelbar in Freiraum-Erleben überzugehen. Doch auch der Hof oder ein naturnaher Platz in der Stadt sind Räume für Kinder, in denen sie in Echtzeit auf eigenständige Entdeckungsreise gehen können, in denen viele Möglichkeiten zur selbstständigen Gestaltung vorhanden sind.

 

Jugendliche mit Freiraum. Chaos vorprogrammiert?

Wer kennt es nicht? Jugendliche nutzen den Spielplatz, um sich zu treffen, es gibt eine Stunde kein Programm und schon gibt es Konflikte oder es läuft ein ****. Aus Freiräumen werden schnell gesperrte Bereiche, lange Diskussion oder Sanktionen und schlechte Stimmung. Auf Camps oder in der längerfristigen Arbeit mit Gruppen braucht es klare Vereinbarungen darüber, was geht und eben nicht geht.

 

Freiräume AlpenvereinsjugendSehr wahrscheinlich ist es auch, dass Jugendliche bis an diese vereinbarten Grenzen gehen werden und ausprobieren, ob nicht doch mehr geht. Das gehört dazu und ist Teil der Entwicklungsaufgaben dieses Lebensalters. Manchmal dauerts, bis der Groschen fällt – bei einer Großbaustellen im Gehirn (Meyer OJ) eigentlich nicht verwunderlich – und die Potenziale von Freiräumen spürbar werden, aber dann läuft`s und meistens richtig gut.

 

Freiraum in den Vereinsräumlichkeiten?

Auch das geht. Einer Jugendgruppe den Schlüssel der Vereinsräumlichkeiten zu übergeben, ist ein Vertrauensbeweis, aber auch ein Zugang-geben zu einem Raum, der sich damit der unmittelbaren Kontrolle durch Erwachsene entzieht. Ein Risiko, aus dem sehr viel entstehen kann.

 

Was passiert, wenn Freiraum fehlt?

Du kennst Begriffe wie Schneepflugeltern oder Helikoptereltern. Alles Herausfordernde, Schwierige, alle Hindernisse werden von Eltern aus dem Weg geräumt, jeder Schritt und Tritt, jeder Kontakt wird mit Argusaugen beobachtet, damit dem Kind auch nichts „Böses“ passiert. Damit wird Freiraum genommen und eingeschränkt, was Kinder magisch anzieht, wird als zu gefährlich eingeschätzt. Im Jetzt heißt das:

 

Auf der Beziehungsebene steht die Sorge oder die Angst zwischen mir und dem Kind, nicht die zutrauende Überzeugung. Das verändert das Miteinander in der Familie, in der Schule, im Kindergarten. Für die Zukunft heißt das: Überbehütung in der Kindheit ist ein sozialer Risikofaktor für unspezifische Krankheitssymptome in der Adoleszenz (Janssens, 2009) und scheint mit zunehmender Häufigkeit von Depressionen, Angststörungen und geringer Lebenszufriedenheit zu korrelieren (Schiffrin et al, 2014, LeMoyne, Buchanan 2011).

 

„Enge Räume“ machen sich auch in der emotionalen Entwicklung bemerkbar. Eine Studie von Perry et al. (2018) zeigte, dass Zweijährige mit überkontrollierenden Müttern drei Jahre später im Durchschnitt mehr Schwierigkeiten hatten als andere Kinder, in komplexen und herausfordernden Situationen ihre Emotionen und Impulse zu regulieren. Auch acht Jahre später, nach der Messung des Elternverhaltens, zeigten sich Schwierigkeiten im schulischen, sozialen und emotionalen Bereich.

 

FREI – RÄU – ME

 

Freiräume sind gestaltbare Räume, geprägt vom Zeit-Haben und selbstbestimmtem und selbstgestaltetem Handeln.

Trotz dieser übergreifenden Merkmale lohnt der genaue Blick: Wo liegen die Freiräume und die Bedingungen dafür bei Angeboten mit Familiengruppen, für Kinder, mit Jugendlichen, bei Sommercamps oder Ausbildungskursen? Wo sind die Unterschiede bei Kindern und Jugendlichen? Was ändert sich, wenn wir darauf achten? Inwiefern fordert es uns als Leiter*innen heraus? Können wir Freiräume zulassen? Welche Haltung ist dafür wichtig? Einige Fragen, die es wert sind, sie im Jugendteam zu besprechen.

 

Literaturverzeichnis

Janssens, K. A. M., Oldehinkel, A. J., & Rosmalen, J. G. M. (2009). Parental Overprotection Predicts the Development of Functional Somatic Symptoms in Young Adolescents. Journal of Pediatrics, 154(6), 918-923. https://www.rug.nl/research/portal/files/6733556/Janssen_2009_J_Pediatr.pdf.

LeMoyne T., Buchanan T. (2011) DOES “HOVERING” MATTER? HELICOPTER PARENTING AND ITS EFFECT ON WELL-BEING Sociological Spectrum Vol. 31 , Iss. 4.
Schiffrin, H. et al. (2014). Helping or Hovering? The Effects of Helicopter Parenting on College Students’ Well-Being. J Child Fam Stud, 23:548–557

Meyer, M. (o.J.) Das Gehirn von Jugendlichen ist eine Baustelle. https://www.psychologie.uzh.ch/dam/jcr:00000000-0fff-14a1-ffff-ffffd29e8fe9/prisma0412.pdf, 05.04.2022

Perry, N. B., Dollar, J. M., Calkins, S. D., Keane, S. P., & Shanahan, L. (2018, June 18). Childhood Self-Regulation as a Mechanism Through Which Early Overcontrolling Parenting Is Associated With Adjustment in Preadolescence. Developmental Psychology. Advance online publication. http://dx.doi.org/10.1037/dev0000536.

Opaschowski, H.W. (2020). Freizeit, Freie Zeit und Muße. In: Handbuch Ganztagsbildung. (Hrsg.) Petra Bollweg, Jennifer Buchna, Thomas Coelen, Hans-Uwe Otto. Springer-Verlag, S. 781 – 792. https://books.google.at/books?id=z1DaDwAAQBAJ&pg=PA784&lpg=PA784&dq=frei+verf%C3%BCgbare+und+selbstbestimmbare+Lebenszeit++opaschowski&source=bl&ots=nd5hqrJLKa&sig=ACfU3U2yRfspEeXEarPnVjJiqb3rn9o9Mw&hl=de&sa=X&ved=2ahUKEwiklPLJtID3AhXbiv0HHU9jCnAQ6AF6BAgyEAM#v=onepage&q=frei%20verf%C3%BCgbare%20und%20selbstbestimmbare%20Lebenszeit%20%20opaschowski&f=false

Peyerl K., Züchner, I. (2019). Freiraum im Jugendalter – ein theoretischer und empirischer Versuch. Online: https://link.springer.com/article/10.1007/s12592-020-00358-x, 05.04.2022

Tenorth, H.-E., & Tippelt, R. (2012). Internatsformen. In H.-E. Tenorth & R. Tippelt (Hrsg.), Beltz Lexikon Pädagogik (S. 349). Weinheim: Beltz.

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Matthias Pramstaller ist Bundesjugendsekretär der Alpenvereinsjugend.

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