Im DREI D Magazin 04/2020 haben wir euch die Stop talking-App vorgestellt. Ein digitales Helferlein für Jugendleiter*innen, das die Kommunikation mit den Jugendlichen und das Treffen von Entscheidungen scheinbar obsolet macht. Diese eierlegende Wollmilchsau scheint die Lösung für alle Probleme, Herausforderungen und Schwierigkeiten zu sein, auf die man in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen so stoßen kann.
Wir können euch beruhigen. Die App gibt es nicht, soll es nie geben und muss es nicht geben. Was wir in der Jugendarbeit manchmal als Herausforderung empfinden mögen, gehört einfach dazu. Es macht unsere Tätigkeit spannend und bietet uns die Möglichkeit, daran zu wachsen. Es braucht keine App, sondern manchmal nur ein bisschen Mut, uns auszuprobieren und die ein oder andere Unsicherheit auch zuzulassen. Etwas Unterstützung und das Lernen von den Erfahrungen anderer kann natürlich auch nicht schaden.
Deshalb habe ich Eva Schider, langjährige Kursleiterin unserer Youngsters-Kurse zum Interview gebeten und sie gefragt, warum sie die Stop talking-App nicht braucht und wie das bei den Youngsters Kursen so abläuft.
Liebe Eva! Gleich vorweg, warum brauchst du die Stop talking-App nicht?
Zum einen glaube ich nicht daran, dass so eine App funktionieren würde. Zum andern bin ich davon überzeugt, dass man sich als Begleiterin einer Gruppe einfach nur eine Grundsatz-Frage stellen muss: Wie will ich leben und wie will ich das Kindern und Jugendlichen vermitteln? Konkret heißt das für mich, dass ich mir als Begleiterin von Gruppen drüber klar werden muss, wofür ich stehe. Ich, zum Beispiel, bin davon überzeugt, dass Kinder und Jugendliche, wenn sie sich riskieren dürfen und dabei begleitet werden, lernen und wachsen und somit gestärkt in alle weiteren riskanten Situationen ihres Lebens gehen können. Das wiederum finde ich ist essenziell, weil man im Leben so wie im Bergsport nicht alles zu jeder Zeit kontrollieren kann und es somit wichtig ist, von klein auf zu lernen, wie man abwägt, was man kann und was man besser lassen sollte. Und dafür muss und darf man lernen, eigenständige Entscheidungen zu treffen. Ganz ohne irgendeine App. Sondern mit einem ganzen Haufen Eigenverantwortung.
Zum Kurs Alpinklettern beispielsweise kommen acht bis über beide Ohren mit Motivation „bewaffnete“ junge Nachwuchsalpinist*innen aus ganz Österreich. Die Altersspanne ist 14 bis 20, die Vorerfahrung variiert und untereinander kennen sie sich oft auch noch nicht. Das klingt herausfordernd. Die Stop talking-App hätte hier, für ein homogenes Ergebnis, vorab bereits gnadenlos aussortiert. Welche Chancen bieten heterogene Gruppen aus deiner Sicht?
Eine heterogene Gruppe ist das Abbild der Realität und damit ein großes Lernfeld für die Teilnehmenden und die Begleiter*innen. Plus ist ja auch immer die Frage, wie man heterogen definiert. Bezogen auf ihre Motivation und die Tätigkeit, also das, was sie gern tun und wofür sie brennen, ist das ja meist eine durchaus homogene Gruppe. Somit passiert dann vieles von selbst. Die Erfahreneren nehmen am Anfang die Unerfahreneren unter ihre Fittiche und zeigen ihnen, wie`s geht. Gleichzeitig lernen aber die dabei viel über sich selbst, über Geduld oder über verschiedene Zugänge zu Risiko. Ein kleiner feiner Nebeneffekt ist auch: Beim Erklären lernt man selber am allermeisten. So profitieren alle – die einen, weil sie Verantwortung übernehmen dürfen, und die anderen, weil sie aus ihrer Peer-Gruppe lernen und nicht nur von uns „Oldies“.
Wie schafft ihr es, speziell in der stürmischen Gruppenanfangsphase eine Umgebung zu schaffen, in der sich jede/r wohlfühlt und die Jugendlichen nicht den Druck haben, sich klettertechnisch übertrumpfen zu müssen?
Im Grunde geht’s für mich da um eine eigene Haltung und um eine Atmosphäre, die damit geschaffen wird. Wie gebe ich mich und warum? Muss ich als Begleiterin schon alle übertrumpfen oder bin ich zurückhaltend und gemütlich? Und dann ist da noch die Augenhöhe. Wir versuchen von Anfang an, nicht Kontrolle und von oben herab zu leben, sondern zuzutrauen, ernst- und für voll zu nehmen. Damit wird allen schnell klar, dass die Verantwortung zu einem großen Teil bei jedem und jeder selbst liegt. Was ja auch so ist, denn alles kann ich z.B. beim Alpinklettern nie kontrollieren. Und diese, unsere Haltung überträgt sich schnell auf die Gruppe, denn das Meiste muss man gar nicht sagen bzw.
würde es gesagt nicht wirken. Die wichtigen Dinge muss man vorleben.
Die fiktive Stop talking-App hätte dem Jugendleiter bzw. der Jugendleiterin automatisch Tourenvorschläge gemacht, die Teilnehmer*innen hatten dabei nichts zu sagen. Wie macht ihr das bei den Youngsters und was ist die Idee dahinter?
Wieder geht’s um mich als Begleiterin und was mein Ziel ist. Will ich Schafe haben, die mir brav nachlaufen und das machen, was ich ihnen sage, oder will ich, dass die Teilnehmer*innen, wenn sie eine Woche nach dem Kurs alleine in den Bergen unterwegs sind, und das werden sie so oder so sein, handlungsfähig sind und die Verantwortung für sich und ihre Entscheidungen übernehmen können. Wie die Science Busters sagen: Wer nichts weiß, muss alles glauben!
Bei uns läuft das so, dass die Teilnehmenden entweder schon Ideen mitbringen oder wir ihnen Touren vorschlagen. In den Vierer-Gruppen entscheiden sie sich dann für eine und planen die. Wir helfen ihnen dabei, indem wir Fragen stellen. Wie ist das Wetter morgen? Wann müssen wir losgehen? Schaffen wir das bis zum Abendessen? Wer ist schon mal 1000 Höhenmeter gegangen? Was muss in den Rucksack? Usw. Das reicht schon oft, um ein anderes Tourenziel zu wählen – wenn das erste sehr ambitioniert für das Wetter oder die Gruppe war. Oder eben dabei zu bleiben und einen Plan für die Tour zu haben.
Als Kursleiterin ist es sicher oft schwierig, hier nicht zu sehr einzugreifen. Sicher hast du dir schon das ein oder andere Mal im Vorhinein gedacht, dass die Tour nicht optimal ist. Wie gehst du selbst mit dieser Unsicherheit um?
Das ist ein wichtiger Punkt, den du da ansprichst. Ich habe, ehrlich gesagt, auch immer mal wieder in ungutes Gefühl oder sogar ein wenig Angst, dass was passiert. Was ich im Laufe der Jahre gelernt habe, ist, dass die Grundlage für so eine Art des Arbeitens mit Menschen immer sein muss, dass es mir als Begleiterin gut geht. Ich muss mich wohl fühlen bei dem, was ich mache. Das geht nur, wenn ich ehrlich zu mir selbst und zu den anderen bin. Was konkret heißt: Wenn ich unsicher bin, spreche ich das aus, teile es mit der Gruppe. Denn nur auf Gesagtes kann ein Gegenüber auch reagieren und für mich ist alleine das Aussprechen oft schon ein großer Schritt zum Mich-wieder-besser-Fühlen. Natürlich ist das ein Weg der Entwicklung, etwas, was man lernen darf. Das ist das Eine. Das Andere, würd` ich sagen, ist die Schnittstelle zwischen dem, wie`s mir geht und dem, was ich dann draus mache. Es gibt viele Situationen, in denen ich defensiv und unsicher bin. Mich also nicht gut fühle. Das sage ich den Youngsters dann auch: „Puh, bin nicht sicher, ob das klappt – ob das nicht zu nass ist oder ihr euch da nicht übernehmt.“ Dann frage ich z.B. nach ihrem Plan B. Was wäre wenn? Und oft wird dann schnell klar, dass da viel Motivation auf den harten Boden der Realität fällt.
Auf Tour sind ständig Entscheidungen von, für und mit der Gruppe zu treffen. Die Stop talking_App hätte das in einer dystopischen Zukunft völlig anonym übernommen. Wie geht ihr im Kurs damit um?
Entscheidungen sind in der Tat etwas sehr Lästiges. Man muss nachdenken, diskutieren und dann oft auch noch zurückstecken. Deshalb wundert es mich nicht, dass manchmal gar nicht entschieden, sondern einfach irgendwas gemacht wird. Um genau das zu verhindern, versuchen wir, mit den Youngsters immer eine „break“ zu machen, wenn eine Entscheidung ansteht. Das ist ein kurzer Stopp – Stimmt der Einstieg? Passt der Eisfall? Den Hang fahren? Fakten sammeln, sagen, wie jeder selbst dazu steht, und dann entscheiden. Es geht nicht drum, richtig zu entscheiden – denn die Kategorie gibt’s im Bergsport wohl nicht. Wer weiß das schon, was richtig und was falsch ist. Es geht nur drum, bewusst zu entscheiden und jedem in der Gruppe Zeit zu geben drüber nachzudenken, sich reinzufühlen und was dazu sagen zu können. Wenn man will. Das klappt eigentlich ganz gut. Aber natürlich gibt’s auch da hin und wieder Grenzen und wir Begleiter*innen springen dann mit einem Veto ein – wenn eine Gruppe beispielsweise drauf und dran ist, in einen Hang einzufahren, obwohl die Analyse der Fakten ein sehr klares „Stop“ ergab. Das sprechen wir dann danach schon an – dass da Fakten und Wollen oft nicht zusammenpassen und ein Realitätscheck von Nöten ist.
Kinder und Jugendliche sind es gewohnt, bewertet zu werden und fordern das oft sogar ein. Gibt es Feedback bei den Youngsters oder wie läuft das bei euch ab?
Das machen die gemeinsam. Jeden Abend. Wir Begleiter*innen erklären die Methode. Z.B.: Zeichnet die Tour, die wir heute gegangen sind, auf ein Plakat. Die Stellen, bei denen Entscheidungen getroffen wurden, was Besonderes vorgefallen ist, was passiert ist, das ihr euch gemerkt habt, positiv wie negativ, markiert ihr. Und dann wird in der Gruppe drüber gesprochen. Das klingt dann so: „Da haben wir Pause gemacht und ich musste auf Klo; während ich weg war, habt ihr die Entscheidung getroffen. Das hat mir nicht getaugt. Nächstes Mal möchte ich bitte wieder mitreden.“ Oder: „Also, ich hatte Angst beim Verstieg in der Schlüssellänge; morgen müss ma a leichtere gehen oder es muss wer anderer vorsteigen!“ oder „Genial, alles ist voll geflutscht heute! Wir haben volle gut zusammengearbeitet!“ Da kommt dann das „reflect“ zum „break“. Wir Begleiter*innen stellen da maximal Fragen. Ansonsten tragen wir nur bei, was die Gruppe von uns konkret wissen möchte. Und oft, wenn sie beim Abstieg ratschen, machen sie das mit dem Reflektieren ohnehin ganz von selbst. J
Du bist Bergführerin, Lehrerin und arbeitest seit Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Hast du einen Tipp für unsere Jugend- und Familiengruppenleiter*innen da draußen, die vielleicht nicht deinen Erfahrungsschatz haben und in ihrer Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen auch mal Schwierigkeiten haben?
Beschäftige dich mit dir selbst. Was geht dir durch den Kopf in stressigen Situationen und wie fühlt sich`s an? Denn nur so bist du echt und bleibst bei dir selbst und stellst sicher, dass es dir gut geht bei dem, was du machst! Das ist es, worum es im Kern für mich bei der Arbeit mit Menschen geht: Bleib bei dir, steh zu dir und vor allem schau auf dich und das, was du brauchst. Und, was ich auch lange nicht wusste: Fragen bringen viel mehr als Antworten!! Also Danke David ;-)!
Eva! Vielen Dank für den spannenden Einblick in die Youngsters-Kurse und deine ehrlichen Antworten.
Viel Spaß bei deinen nächsten Kursen!
Fotos im Beitrag: Heli Düringer.
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