Ein Blick in die Glaskugel

Rückblick

Das Thema Schnee und Lawinen beschäftigt die Menschen nicht erst seit es breite Freerideski und GoPro-Kameras gibt. Bereits 1938 veröffentlichte Wilhelm Paulcke sein Werk „Praktische Schnee- und Lawinenkunde“, in dem er seine Erfahrungen und Beobachtungen teilte. Die bekannte Aussage „Der Wind ist der Baumeister der Lawinen“ geht auf dieses Werk zurück und hat bis heute Gültigkeit. Seit dem Boom des Skitourismus in den1960er- und frühen 1970er-Jahren wurde die Infrastruktur mehr und mehr an die Bedürfnisse der Wintersportler*innen angepasst. Ungefähr zu der Zeit startete man in Tirol auch den ersten Lawinenlagebericht, genau am 22.12.1960.

Der erste Lawinenlagebericht in Tirol 1960

Viel hat sich seither getan. Am deutlichsten kann man die Entwicklung oft am Material beobachten. Die beiden Bereiche Freeriden und Skitouren verschmelzen zunehmend zu einer Sportart. Das Material wird immer leichter und universeller einsetzbar. Hybridbindungen mit genormter Auslösung und superleichte, stabile Freerideschuhe um die 1.500 Gramm unterscheiden sich von normalen Skischuhen nur noch durch das Vorhandensein eines Walk- Mechanismus und das Gewicht. Beim Freeriden bietet die Mitnahme von Fellen und die Möglichkeit aufzusteigen nicht nur sicherheitsrelevante Vorteile im Falle eines Unfalles. Es gibt zahlreiche Skitouren, die vom Skigebiet aus gut erreichbar sind und durch den hohen Start ein geniales Aufstiegs-/Abfahrtsverhältnis bieten.

Nicht nur das Material hat sich über die letzten Jahrzehnte stark verändert. Auch der Zugang zur Schnee- und Lawinenkunde hat einige turbulente Phasen hinter sich und ist ein Thema, worüber man auch heute noch ausgezeichnet streiten, philosophieren und fachsimpeln kann. Die 80er-Jahre waren von einem regelrechten Schaufel- und Grabeboom gekennzeichnet. Nur das Graben von Schneeprofilen und Betrachten der Schneekristalle mit der Lupe, so dachte man, kann valide Ergebnisse zur Hangbeurteilung liefern.

Werner Munter leitete in den 90ern einen Paradigmenwechsel ein und wurde durch seine bis heute verwendete und gültige Reduktionsmethode bekannt. „Denken statt graben!“ war seine Devise. Die Verknüpfung von Hangsteilheit und Gefahrenstufe war ein völlig neues Konzept und wurde von der Fachwelt bejubelt. Dennoch werden Munters Konzepte bis heute nur von wenigen angewandt- das soll sich aber ändern!

Ausblick

Eines lässt sich schon einmal vorwegnehmen. Die nächsten großen Entwicklungen, die uns im Skitouren- und Freeridebereich erwarten, sind technischer bzw. digitaler Natur. Das große Thema der letzten zwei Jahre heißt Skitourenguru.com (siehe auch DREI D, Nr.3/2023). Viele tausende Skitouren sind dort als Track hinterlegt und werden täglich mit dem aktuellen Lawinenprognosebericht bewertet. Mittels Farbcode (grün, balu, rot) lässt sich auf der Übersichtskarte schnell erkennen, welche Touren am Folgetag Sinn machen und möglich sind. Ab der nächsten Saison wird es auch in Österreich möglich sein, Touren selbst zu planen und bewerten zu lassen. Damit wird Skitourenguru ein zentraler Bestandteil der Tourenplanung werden.

Der bereits in alpenvereinaktiv verfügbare ATHM (Avalanche Terrain Hazard Map) Layer, der nicht nur die Hangsteilheit berücksichtigt, sondern auch die Hanggröße, Geländeform und den Bewuchs beurteilt, stellt eine wichtige Entscheidungshilfe bei der Tourenwahl dar. Momentan ist dieser Layer noch statisch und deshalb auch nicht für alle Situationen gleichermaßen gut geeignet.

Die Weiterentwicklung dieser Gefahrenkarte wird aber kommen und in der Lage sein, die vorherrschenden Lawinenprobleme und zu erwartenden Lawinengrößen mitzuberücksichtigen. Die Karte wird also noch sehr viel genauer werden und die reale Situation besser beschreiben können.

ATHM Layer

Eine zeitnahe Verknüpfung der Gefahrenkarten mit sogenannten Heatmaps wäre ein Riesenschritt und würde es uns ermöglichen, Rückschlüsse auf bereits gefahrene oder verspurte Hänge zu ziehen. Wir könnten also bereits bei der Tourenplanung berücksichtigen, ob ein Hang angespurt ist bzw. wie viele Spuren in einem Hang wären. Aus Datenschutzgründen scheint diese Innovation im Moment noch in weiter Ferne, aber wer weiß…

Screenshot einer Heatmap

Im Ausbildungsbereich hat der Lawinenwarndienst Tirol die Tür zur virtuellen Realität aufgestoßen und eine Anwendung entworfen, die den Lawinen-Notfall simuliert. Das Szenario dauert ca. 15 Minuten und gibt dem Spieler oder der Spielerin die Möglichkeit, das Basisablaufschema im Lawinennotfall zu üben. Dafür notwendig ist lediglich eine VR-Brille, die zwischen 300 und 800 Euro kostet. Die VR-Brille funktioniert auch offline und könnte zu Ausbildungszwecken in Sektionen oder sogar Hütten eingesetzt werden. Eine Weiterentwicklung in Richtung Erste Hilfe, Orientierung, Spuranlage, Erkennung von Gefahrenzeichen, etc. ist angedacht und könnte den theoretischen Ausbildungsunterricht in Zukunft sehr effektiv unterstützen.

Notfall Lawine in der virtuellen Welt

 

Dass die sozialen Medien nicht nur zur Selbstdarstellung verwendet werden können und die Schwarmintelligenz auch für sinnvolle Dinge genutzt werden kann, haben die Lawinenwarndienste aus Österreich, Bayern und Südtirol gezeigt. Die App www.snobs.live ermöglicht es Skitourengeher*innen seit diesem Winter, schnell und unkompliziert Rückmeldungen zu aktuellen Verhältnissen, frischen Lawinen, Stabilitätstests usw. zu geben und dadurch Teil vom täglichen Lawinenreport zu werden. Die App funktioniert auch offline im Gelände. Sobald wieder Netzempfang besteht, werden die Informationen samt hinterlegten GPS-Daten an den Server gesendet.

Der Lawinenprognostiker kann die eingelangten Informationen dann sammeln und bereits vorsortiert bewerten. Die eingegebenen Informationen können auch von allen anderen SNOBS-Userinnen und -Usern eingesehen werden, was einen echten Mehrwert für alle bringt. Die App hat gerade erst gestartet und bereits viele aktive User*innen. Wir dürfen also davon ausgehen, dass uns der Social-Media-Gedanke im Schneesportbereich in die Zukunft begleiten wird mit dem Ziel, bessere Informationen und Sicherheit für alle zu schaffen.

Gerade gelauncht: die App SNOBS

Schlechter oder gar kein Handyempfang im Gelände wird schon sehr bald der Vergangenheit angehören. Das europäische Satellitensystem IRIS2 soll ab 2027 einsatzfähig sein und ermöglicht uns grenzenloses Breitbandinternet, auch im Gelände. In Kombination mit einer anderen Technologie, die bereits in den Startlöchern steckt, nämlich der Augmented Reality, werden uns völlig neue Möglichkeiten im Bereich der Gruppenkommunikation, der Orientierung, der Entscheidungsfindung oder auch beim Bewältigen von Notfällen eröffnet. Alle nur erdenklichen Informationen werden uns in der AR-Brille eingeblendet. Unser Kopilot unterstützt uns bei unseren Entscheidungen oder setzt beispielsweise die Rettungskette in Gang.

Im Bereich des Material- und Bekleidungssektors zeichnet sich eine sehr freudige Entwicklung ab. Nachhaltigkeit und ressourcenschonende Produktion sind echte Verkaufsargumente, vor allem beim jüngeren Publikum. Das fängt in der Skiproduktion an, wo Titanaleinlagen unter den Bindungen durch verschiedene Hartholzeinlagen ersetzt werden und hört bei den Bekleidungslinien auf, die zu 100 Prozent aus PET-Flaschen hergestellt werden. Ternua (baskische Bekleidungsfirma) produziert Hosen und Jacken, die zu 100 Prozent aus demselben Material gefertigt werden. Am Ende einer Lebensperiode werden die Reißverschlüsse abgelöst und das Textilmaterial kann vollständig recycelt werden.

Patagonia darf wohl als Platzhirsch im Bereich Ökologie und Umweltschutz genannt werden und setzt schon sehr lange auf diese Nachhaltigkeitsstrategie. Das Worn-Wear-Programm ist hier besonders hervorzuheben, wo man Reißverschlüsse, Risse oder Löcher kostenlos reparieren lassen kann. Der Erfolg gibt ihnen Recht und es darf angenommen werden, dass auch andere Firmen auf diesen Zug mitaufspringen. In der Kletterszene ist zu beobachten, dass offensichtlich geflickte oder reparierte Hosen und Jacken gar in Mode sind. Bleibt zu hoffen, dass dieser moderne Dirtbag-Trend nicht nur ein kurzer Hype ist, sondern zum Markenzeichen der Outdoor-begeisterten Community wird.

Foto: Armada Skis

Die zunehmende Klimaerwärmung wird auch am Skitouren- oder Freeridesport nicht schadlos vorübergehen. Auch wenn die Gesamtniederschlagsmenge im Alpenraum eher zunimmt, so wird die Schneefallgrenze und allgemein die Wintersaison doch immer kürzer werden. Momentane Trends wie das Pistentourengehen werden noch mehr in den Fokus rücken, da hier die künstlichen Beschneiungsanlagen zum Tragen kommen. Skiliftgesellschaften haben den Trend mittlerweile erkannt und sehen die Skitourengeher*innen nicht mehr nur als Plage, sondern als Wachstumsmarkt. Mit ausgefeilten Kombitickets und Parkplatzgebühren scheint hier nun endlich ein sinnvoller Konsens gefunden worden zu sein. Dieser Trend wird sich auch in Zukunft fortsetzen, wobei dies in der Regel eher die stadtnahen Skigebiete betrifft.

Und was wird wohl aus unserer klassischen Schnee- und Lawinenkunde werden? Können wir in zehn Jahren noch immer so genüsslich streiten und diskutieren oder wird uns auch dieses Thema von einem Algorithmus abgenommen werden? Wir wissen es noch nicht, aber Fakt ist, dass es bereits Schneemodellierungen wie Snowpack gibt, die anhand der Wetterdaten und bestehenden Schneeprofile den Schneedeckenaufbau und das Entstehen gefährlicher Schwachschichten in die Zukunft rechnen können.

Der Lawinenwarner wird in Zukunft also die Möglichkeit haben, detaillierte Schneedeckenmodelle zu Rate zu ziehen und in seine Entscheidung miteinfließen zu lassen. Für den/die Wintersportler*in draußen vor Ort wird das vermutlich wenig Einfluss haben. Ob ein Hang mit frischem Triebschnee gefüllt ist oder nicht, sind äußerst kleinräumige Situationen, die Modelle nur schwer berechnen können. Wir können also davon ausgehen, dass uns das Streitthema Einzelhangentscheidung noch eine ganze Weile erhalten bleibt.

Zurück in die Gegenwart

Die Ausbildungsprogramme der Alpenvereinsakademie und der vielen Sektionen bieten ein riesiges Spektrum an Möglichkeiten, um zu erlernen, wie man sich sicher in der winterlichen Bergwelt bewegt und zurechtfindet. Die Zukunft kommt ja bekanntlich schneller als man denkt und ganz sicher werden wir eines Tages wehmütig auf die Good Old Days zurückblicken, als man Entscheidungen am Berg noch selbst treffen durfte.

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Thomas Wanner ist ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer und Mitarbeiter in der Abteilung Bergsport für die Bereiche Ausbildung und Sicherheit.

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