Den Film „Tage draußen!“ kennen viele. „Tage draußen!“ ist nicht nur ein Filmtitel, es ist sogleich auch unser Produkt: Tage draußen, das finden Kinder und Jugendliche bei der Alpenvereinsjugend. Dass es dabei auch um mehr geht, hat Luis Töchterle, als er den Begriff „Tage* draußen“ 2010 im und für den Alpenverein ins Leben gerufen hat, selbstverständlich mitgedacht. Er meinte: Bei Tagen draußen geht es um Bewegung, soziale Beziehungen, Naturbeziehung, Leben in Echtzeit, im Hier und Jetzt.

DAS WAS UND DAS WIE

Mit dieser Perspektive öffnet sich der gesellschaftspolitische Blick auf die Tätigkeiten der Alpenvereinsjugend. Unser Tun ist eingebettet in die Lebensbedingungen und Veränderungen des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen und baut auf dem Wissen über gesunde Entwicklungsbedingungen auf. Hier spielen Bewegung und das Miteinander in der-Natur-Sein eine wichtige Rolle. Nachdem im Leben aber nicht nur das Was, sondern immer auch das Wie von Bedeutung ist, wollen wir aktuell den Blick verstärkt auf beide Aspekte legen.

ANLIEGEN, EINSTELLUNGEN UND VORSTELLUNGEN

Das Kleingedruckte bei „Tage draußen!“ lautet: Ein Film der Alpenvereinsjugend über Freiräume, Zuversicht und gesunde Risiken. Damit ist der Raum geöffnet zu den Anliegen, Einstellungen und Vorstellungen, zusammengefasst: zur Haltung in der Jugend- und Familienarbeit. Im Film bekommen wir einen Eindruck, was im Produkt der Alpenvereinsjugend steckt, wenn wir den Themen von „Tagen draußen!“ Platz einräumen:

Verantwortung ermöglichen
• Freiräume & gesunde Risiken
• Drinnen & Draußen
• Begleiten
• Freude & Beherztheit

WAS MEINEN WIR DAMIT?

Pädagogische Haltung
Eine pädagogische Haltung ist mehr als eine Einstellung. Sie zeigt sich in den Vorstellungen und Zielen und andererseits in dem Erfahrungswissen.

VERANTWORTUNG ERMÖGLICHEN

„Tage draußen!“ schafft Zeit und Erlebnisse in der Natur. Unabhängig vom gewählten Zugang steht „Tage draußen!“ für individuelle Risikoverantwortung und Selbstverantwortung: Wir können Kindern und Jugendlichen Lernfelder anbieten, um mit den Risiken ihrer Sportarten / Tätigkeiten / Leidenschaften umgehen zu lernen und ihnen Erfahrungen anbieten, die sie unterstützen, einen Blick für sich selbst zu entwickeln.

Beide Aspekte bedingen und unterstützen einander. Interessieren wir uns für die Kinder und Jugendlichen und nicht nur für das, was sie uns zeigen und leisten, stärken wir sie. Nehmen wir sie und ihre Wünsche und Werte ernst, führt das dazu, dass sie lernen für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Und das ist es: Ein wichtiger Punkt unseres Handelns in der Alpenvereinsjugend sollte es sein, Kinder und Jugendliche dabei zu begleiten, dass sie im Rahmen unserer Angebote verantwortungsvoll mit sich und ihrem Lebensraum umgehen lernen.

FREIRÄUME & GESUNDE RISIKEN

Margret Stamm, Erziehungswissenschaftlerin der Universität Zürich, hat 2016 auf folgende Lebensrealität von Kindern hingewiesen: Erstklässler verbringen 5 Prozent ihrer freien Zeit mit unbeaufsichtigtem Spielen. Bei 5 Stunden Freizeit sind das 15 Minuten täglich. In ihrer Schlussfolgerung zeigt sie deutlich die weitreichenden Folgen auf und verweist auf die Abschaffung der besten Frühförderung. Kinder können die für das Spielen notwendige kreative Energie nicht mehr entwickeln, weil sie ständig gesagt bekommen, was sie tun sollen oder was sie wie zu tun haben. Egal, ob zu Hause, in der Musikschule, beim Fußball, beim Schwimmen, beim Kinderturnen …

risky playFreiräume schaffen wir, wenn wir nicht alles vorgeben, „einfach mal laufen lassen“, kein starres Programm durchbringen wollen und vor allem uns und den Kindern Zeit geben. Zeit um aufzunehmen, was kommt, Zeit, um gemeinsam unterwegs zu sein, Zeit, um vielleicht auch einfach mal nichts zu tun – und nichts tun ist nicht Handy-wischend- Chillen in der Hängematte. Wir können einen „Raum mit Rahmen“ schaffen, der sich vom getakteten Alltag unterscheidet. Mir fällt an dieser Stellte der Text „Jetzt jetzt. Später später“ von Christian Bartak in der Tage draußen!-Zeitung ein.

risky play

Spielen in großen Höhen- Erleben hoher Geschwindigkeiten- Spielen mit gefährlichen Gegenständen/Werkzeugen- Spielen in der Nähe von gefährlichen Elementen (Feuer, Wasser- Wildes Spielen (raufen)- Spielen, wo Kinder „verloren gehen können“ (ohne Aufsichtspersonen)

Während des alltäglichen Regelbetriebs von Schule, Sporttraining und Musikunterricht bleibt oft eins auf der Strecke: die Zeit. Zeit für Spontanes und Sinnloses, fürs Luftholen und Durchatmen. Eltern und Kinder takten den Alltag in immer höherer Frequenz. Mit Effizienz und Talent passt ganz schön viel in so eine einfache Schulwoche und die Wochenenden und Ferien gehen da gleich mit. Planung ist das halbe Leben, heißt es. Und die andere Hälfte ist dann verplant. Ich frage mich, was bleibt da noch übrig? Wo bleibt die Zeit fürs Versinken im Moment? Wo ist Platz für Unerwartetes, fürs Staunen, für unvorstellbare Gaudi? Eng verbunden mit der Einstellung, sich als Erwachsener zurückzunehmen, sind die Überlegungen von Ellen Sandseter zu risky play (siehe Infobox) sowie, etwas weiter gefasst, unser Begriff der gesunden Risiken.

Unsere Aufgabe ist es, risikoreiche Situationen zuzulassen. Kinder müssen ausprobieren dürfen, aus sich heraus Erfahrungen machen, den Grad der Herausforderung selbst wählen und auch kritische Situationen erfolgreich bewältigen. Es geht um die Erfahrung: „Mir wird was zugetraut!“, aber auch: „Das ging schief“. Wichtig ist hier die klare Abgrenzung zur Gefahr: Im Risiko passiert Entwicklung, vor Gefahren wird beschützt.

DRINNEN & DRAUSSEN

Ein bekannter Bergsteiger meinte, Bergsteigen ist die Begegnung von Mensch-Natur und Bergnatur. Klar, jedes Erlebnis, das Draußen-unterwegs- Sein, eine riskante Entscheidung, jede Begegnung mit einem Anderen ist eine Begegnung zwischen Innen und Außen. Am Ende eines Tages am Berg kann ich mich fragen: „Was macht das mit mir?“, „Was passiert mit mir?“, „Was verändert sich?“. Als Begleiter*innen von Kindern und Jugendlichen ist es wichtig, mit den Kindern in Beziehung zu gehen, einen Blick zu haben, wie es ihnen mit unserem Angebot, mit dem zur Verfügung gestellten Rahmen, im Miteinander, geht und Möglichkeiten zu geben, das Erlebte auszudrücken.

BEGLEITEN

Kinder und Jugendliche auf Augenhöhe zu begleiten heißt nicht, die Leitung aus der Hand zu geben oder Kinder alles machen lassen. Es heißt in erster Linie, von folgendem Bild auszugehen: Kinder sind kompetent! „Du kannst was und ich bin bereit, mit dir in Austausch und in Beziehung zu gehen.“ Es ist ein Zutrauen und Vertrauen in die Stärken und in die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen, bei klarem Blick auf Überforderungen und Gefahren. Auf Augenhöhe heißt auch, bereit sein, um den oben genannten „Raum mit Rahmen“ immer wieder neu zu verhandeln. Sprich: in Austausch zu gehen und sich auf die ständig notwendige Suche nach Balance zwischen Freiheit und Grenzen einzulassen.

FREUDE & BEHERZTHEIT

Wichtig ist, dass unsere Kinder und Jugendlichen gerne zu den Aktionen kommen, dabei Spaß haben. Ein lustiges oder spaßiges Angebot geht uns allen leicht von der Hand – die letzten Coronamonate ausgeblendet, ist es wahrscheinlich nicht lange her, dass es bei euch in der Alpenvereinsjugend eine Riesengaudi gab. Ich möchte diesen wichtigen Aspekt um zwei Gedanken erweitern und mir einen kurzen Exkurs erlauben.

Vor einiger Zeit habe ich über folgende Formulierung in einem Alpinkletterführer schmunzeln müssen: „An der Schlüsselstelle beherzt höher steigen“, das wäre wichtig, meinte der Autor. Was will er damit sagen? Wie geht beherzt höher steigen? „Scheiß dich nicht an?“, „Nimm all deinen Mut zusammen und …“, „Gib alles, was du hast, fokussier dich, im Flow wird die Schlüsselstelle eine leichte sein?“ Wieder eingefallen ist mir diese Formulierung, als Gerald Koller in seinem Vortrag beim Fachsymposium „Verantwortung ermöglichen“ über Mut und Verantwortung sprach und dabei den Bogen spannte zum verbindenden Begriff Courage – französisch Mut, oder Beherztheit, Courage stammt von lat. Cor, das Herz, ab.

risky playWenn wir Verantwortung übernehmen, für eine Sache einstehen, sie vertreten, uns einsetzen, so sprechen wir häufig auch von „mit Herzblut bei der Sache sein“. Beherztheit ist ein altes Wort, ja. Dennoch, es scheint was dran zu sein, ein feiner Unterschied scheint sich einzustellen, wenn wir mit dem Herzen dabei sind. Aber, wie lernen wir das? Ich stimme Gerald absolut zu, wenn er meint, dass uns dies nur durch die unmittelbare Begegnung mit anderen Menschen gelingt, eben dann, wenn wir beherzt miteinander umgehen.

Das lernen wir nicht durch ein formuliertes Lernziel, es lässt sich auch schwer in einem Flyer unterbringen. Ich komme zurück zum eingangs genannten Spaß haben und möchte dem Spaß die Freude zur Seite stellen. Freude zu empfinden, scheint tiefgreifender, ist ein positives Gefühl, das sich zum Beispiel bei Erlebnissen am Berg oder durch Beziehungen auf Augenhöhe einstellt. Spaß (lt. wikipedia Zerstreuung, Zeitvertreib, Vergnügen) hat man meist kurzzeitig, Freude spürt man im Kontakt mit dem Leben.

Beenden möchte ich diesen Punkt mit zwei Fragen: Braucht Freude Beherztheit? Ändert sich der Spaßfaktor, wenn, sprichwörtlich, das Herz in unseren Angeboten und Begegnungen eine Rolle spielt? Wenn ja, wie?

MENSCH, FÜRCHTE DICH NICHT– INNERE SICHERHEIT

In Summe ist „Tage draußen!“ nahe dran an häufig genannten Kompetenzen der Zukunft: Das Umgehen lernen mit Unsicherheit, Mut zur Verantwortung sowie Empathie, welches Selbstwahrnehmung, Mitgefühl, Perspektivenwechsel sowie Antizipation benötigt, ist gewichtiges Bildungsziel unseres Arbeitens.

Fachlich sind diese Aspekte mitunter Fundament psychischer Gesundheit und decken sich mit Aspekten des Resilienz- oder Empowermentkonzeptes.

In Anbetracht aktueller gesellschaftlicher Tatsachen, in der objektive Sicherheit mehr denn je eine Utopie und viele Tatsachen ins Wanken geraten sind, ist das Weiterdenken der Angebote der Alpenvereinsjugend / von „Tage draußen!“ hin zu Überlegungen zur inneren Sicherheit interessant. Im Zuge der Dreharbeiten zum Film ist ein schönes Zitat entstanden, das diesen Blickwinkel treffend einleitet:

„Du brauchst einen Boden, der dich trägt, und dann den Mut, die Tür zu öffnen. Denn da draußen ist auch Boden, du kennst ihn nur noch nicht.“ (Gerald Koller)

Damit ist ausgedrückt, was uns wichtig ist: Entwicklung wird zwischen Mut und Unsicherheit verhandelt und braucht Sicherheit, innere Sicherheit. Auch daran erinnert uns „Tage draußen!“.

Verweise:
– Bartak, Christian (2020). Jetzt jetzt. Später später. In: Tage draußen! Zeitung, S. 2.
– Sandseter, E. B. H. (2009) Characteristics of risky play Journal of Adventure Education and Outdoor Learning ,9 (1), 3-21.
– Stamm, M (2016) Lasst die Kinder los. Warum entspannte Erziehung lebenstüchtig macht. Piper, München, Berlin.

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Matthias Pramstaller ist Bundesjugendsekretär der Alpenvereinsjugend.

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