risk´n´fun FREERIDE – Ein gedanklicher Streifzug von Cornwall über den Venediger zum Dachstein und retour.
Ich bin grad in St. Austell, Cornwall, und beginne am folgenden Beitrag zu schreiben. Was hat das verschlafene, momentan graue und verregnete Fischerdörfchen St. Austell mit dem verschneiten, im beginnenden Schneetreiben verschwindenden Gipfel des Großvenedigers zu tun? Beim Schreiben dieses Artikels zieht mein Blick in die Ferne, wo alles immer grauer, undurchsichtiger und “diesiger” wird. Da kommt wieder das exakt gleiche Gefühl wie damals, wenige Meter unter dem Gipfel des Großvenedigers, Ende März 2023, beim LEVEL 4.
Die Teilnehmer*innen entscheiden selbst.
Wir – genauer gesagt Martin, Michael, Christoph, Steve, Lukas, Ludwig, Markus, Julian,Sebastian und ich – waren bereits den fünften Tag unterwegs in den Hohen Tauern und unsere Gruppe entschied sich an diesem Tag, “Seine Majestät” herauszufordern. Mit einem vagen Wetterbericht, der wenig Spielraum ließ und viel Glück erforderte, spurten wir von der Kürsingerhütte kommend Meter um Meter Richtung Venedigerscharte. Gemächliches Tempo, steter Schritt und wenig Pausen, wir performten schon ganz gut. Kurzer Stopp, Harscheisen drauf und schon standen wir auf der Scharte. Wobei: “Plateau” würde das Terrain besser beschreiben als Scharte.
Unser einhelliger Konsens: Wir gehen, solange wir Sicht haben. Zu viele sind schon im Bereich der Scharte, der ziemlich unübersichtlich und von Gletscherspalten durchzogen ist, verloren gegangen. Das Gipfelkreuz ist bereits zum Greifen nah, da begann der Schneefall. Die Sicht verschlechterte sich innerhalb von Minuten Richtung null, leichter Wind kam auf. Wir standen zu unserer Entscheidung. Schweren Herzens drehten wir eine Viertelstunde unter dem Gipfel um.
Genau dieses Bild drängt sich nun nach fünf Monaten wieder markant ins Gedächtnis, das schwere Gefühl holt mich ein, ein paar Minuten schaue ich melancholisch in die Ferne, wo sich das graue Meer mit den Regenschleiern vereint.
Ein paar Fragen an mich selbst als Kursleiter warten immer noch auf Antworten:
- Hätte ich früher intervenieren sollen, das aufziehende Schlechtwetter zeichnete sich doch bereits ab?
- War die Gruppe überfordert?
- Hätten sie “alleine” – ohne mich als Backup – anders entschieden?
Allerdings macht aber genauso eine Situation den Spirit und auch den Erfolg von risk’n’fun aus. Die Teilnehmer*innen entscheiden selbstständig und auf Basis ihrer Wahrnehmungen und Erfahrungen. Das im Nebel und Schneetreiben verschwindende Gipfelkreuz, den Abbruch der Tour selbst zu entscheiden, bleibt sicher länger im Gedächtnis als ein erzwungener Gipfelsieg mit anschließendem “Hinabsuchen” im Nebel. Scheitern ist angesagt, daran wachsen wir doch.
Alle Teilnehmer*innen hatten bereits mindestens 15 Tage risk’n’fun-Ausbildung hinter sich, zusätzlich das eine oder andere „Chill out“, das ist die jährliche Abschlussveranstaltung von risk´n´fun mit Workshops, Freeriden, Gesprächen und guter Stimmung, und in der Zeit zwischen den Kursen auch schon einige selbst geplante Tourentage durchgeführt. Erfahrung war also genug vorhanden. So kann ich meine Fragen an mich selbst letzten Endes doch positiv beantworten. Es ist ein gutes Gefühl, die Teilnehmer*innen in ihrer alpinen Kompetenz wachsen zu sehen und sie über teilweise mehrere Jahre begleiten zu dürfen.
Inhaltlich aufbauende Ausbildungslevels
Genau das macht risk´n´fun für mich so wertvoll. Viele der Teilnehmer*innen sehe ich nicht nur in einem Kurs, sondern immer wieder auch bei den weiterführenden Kursen. Wir wissen bei allen LEVELS genau, was inhaltlich schon mitgebracht wird. Jede/r der Teilnehmer*innen hat ein LEVEL 1 gemacht und erst dann kann das LEVEL 2 – oder dann das LEVEL 3 oder 4 gemacht werden. Genau hier liegt einerseits das Entlastende für uns Bergführer*innen, aber auch das Spannende: Mit der erworbenen Kompetenz, gepaart mit den eigenen Erfahrungen der restlichen Saison kommen Snowboarder*innen/ Skifahrere*innen zum nächsten Kurs.
Schon kann ich mich als Bergführer*in wieder ein wenig mehr zurücknehmen und mehr Entscheidungen, vor allem gute Entscheidungen, den Teilnehmer*innen überlassen. Das ist übrigens auch das Besondere beim LEVEL 4.Wir Kursleiter*innen schlagen nichts Besonderes vor, es gibt kein fixes Programm, sondern das Programm entsteht Tag für Tag und kommt von der Gruppe selbst. Natürlich kommt nötiger Input wie beispielsweise Anseilen am Gletscher oder Abseilen über eine Felsscharte von uns Bergführer*innen. Stets aber “on the fly”.
Ideen aufgreifen. Mobiler mit ÖFFIS
Genial weiterentwickelt hat sich in den letzten Jahren die Idee der Gebirgsüberschreitung, erstmals ausprobiert beim LEVEL 3, dem Backcountry Pro am Dachstein. Öffentlich angereist ist nicht nur ökologisch eine super Sache – auch auf die Dynamik eines Kurses wirkt sie sich hervorragend aus. Der Kurs beginnt am Bahnhof in Schladming, die Kennenlernrunde findet im Zug oder Bus statt, wir werden entspannt auf den Berg chauffiert und genießen unsere Ausbildungszeit bis zum Ende, mit einer genialen Abfahrt über den Krippenstein, und steigen dann in Obertraun wieder in den Zug ein.
Das LEVEL 4 haben wir dann nach demselben Prinzip konzipiert. Wir reisten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum Ausgangspunkt. Der Hürde der “letzten Meile” haben wir mit einem Taxi ein Schnippchen geschlagen und schon waren wir vom Ballast eines wartenden Autos befreit, blieben frei in der Gestaltung der Tourenwahl und konnten je nach Wetterlage spontanen Abfahrtsideen freien Lauf lassen. Das gab uns die Möglichkeit, einfach mal ins “Blaue” loszustarten und während der Woche anhand der „äußeren Umstände” Tag für Tag die Planungen zu verfeinern und umzusetzen. Oft ergeben sich vor Ort Optionen, an die man bei der Konzeption zu Hause gar nicht denkt. Und so entdeckten wir lohnenswerte Möglichkeiten, ins Tal abzufahren und entwickelten bereits für das kommende Jahr neue Ideen für das Gebiet.
Gleichzeitig nimmt diese Form der An- und Abreise Tempo raus. Das gilt übrigens für viele Kurse und Veranstaltungen. Man kommt gemächlicher an, hat Zeit für einen gemeinsamen persönlichen Austausch, die Qualität steigt. Angenehm auch das Gefühl am Abreisetag. Ein fixer Zugtermin im Tal ermöglicht entspannte Planung und das drängende Gefühl und die üblichen Fragen – “Wann kommen wir am Parkplatz weg?” oder “Kann ich nicht etwas früher abreisen?” – entfallen. Wir bleiben somit nicht nur körperlich noch dabei, sondern sind mit dem Kopf auch noch da.
So kehre ich nun wieder hierher nach Cornwall zurück, schließe den Bericht ab und genieße noch den verbleibenden Sommer.
Axel Tratter ist ehrenamtlicher Ausbildungsleiter für das ÖAV Bundesjugendteam und das Landesjugendteam Steiermark. Er wohnt mit seiner Familie in Graz und ist als Shiatsu Praktiker, TCM – Ernährungsberater und Staatl. gepr. Berg- und Skiführer freiberuflich tätig.
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