Wenig Schnee bedeutet nicht automatisch geringe Lawinengefahr. Leider ist sogar häufig das Gegenteil der Fall…
Die Wahrnehmungsfalle
Abgeblasener Rücken, aus der Schneedecke herausschauende Grasbüschel und Stauden, freiliegende Steine: Allein aus optischen Gründen suggeriert uns eine geringmächtige Schneedecke Sicherheit und lässt uns die Lawinengefahr schnell aus den Augen verlieren: „Da, wo wenig Schnee liegt, kann doch unmöglich eine Lawine abgehen!“
Diesem Irrtum gehen leider nicht nur Skitouren-Rookies auf den Leim. Bestes Beispiel: Der unverspurte Steilhang wird auch von erfahrenen Skitourengeher*innen gern am Rand – also am Übergang zu den Felsen oder am Übergang zum abgeblasenen Rücken – angespurt, weil dort ja weniger Schnee liegt und ergo dessen dort das Lawinenrisiko geringer ist. Warum das ein Irrtum ist und genau diese schneearmen Bereiche für uns Skitourengeher*innen mit besonderer Vorsicht zu beurteilen sind, ist im Grunde recht logisch: Wie wir wissen, können Schneesportler*innen eine Schwachschichte, die tiefer als ca. 80 Zentimeter unter der Schneedecke begraben ist, nicht mehr stören.
Der Übergang von wenig zu viel Schnee
Problematisch wird die ganze Geschichte aber dann, wenn es zu Übergängen von wenig zu viel Schnee kommt. Diese Bereiche bereiten uns deshalb Sorgen, denn je nach Art der Zusatzbelastung[1] können wir Schwachschichten, die weniger tief in der Schneedecke begraben liegen, umso leichter stören. Es kommt zum Bruch der Schwachschichte. Dieser Bruch pflanzt sich dann rasend schnell in jene Bereiche mit viel Schnee fort und löst größere Lawinen aus. Häufig ist das an konvexen Stellen – wie an den Übergängen von Mulden zu Rücken – der Fall.
Lawinenauslösung
Sind alle Zutaten für eine Schneebrettlawine vorhanden, also (1.) eine großflächig verteilte, homogene Schwachschicht, 2.) darüber gebundener Schnee (das „Schneebrett“), 3.) eine Zusatzlast (z. B. durch Wintersportler) und 4.) eine Hangneigung > 30°) , kann das Zusatzgewicht eines Skifahrers oder einer Skifahrerin bereits ausreichen, um die Struktur der Schwachschichte zu zerstören. Es kommt zum Initialbruch, zur Bruchfortpflanzung und in weiterer Folge zum Abgleiten des Schneebretts.
[1] Geringe Zusatzbelastung: einzelner Skifahrer/Snowboarderin, sanft schwingend, nicht stürzend, Gruppe mit Entlastungsabständen (mindestens zehn Meter), Schneeschuhgeher*in. Große Zusatzbelastung: zwei oder mehrere Skifahrer*innen/Snowboarder*innen etc. ohne Entlastungsabstände, Pistenfahrzeug, Schneefeldsprengung, einzelne/r Fußgänger*in / Bergsteiger*in. (Quelle: EAWS/ avalanches.org)
Gefahrenstellen – „Wo ist das Problem?“
Unter Gefahrenstellen verstehen wir jene Geländebereiche, die als besonders gefährdet gelten. Sie werden in den Lawinenlageberichten neben der Gefahrenstufe beschrieben, wobei „Steilhänge“, „triebschneegefüllte Rinnen und Mulden“ sowie „Kammlagen“ und „der Übergang von wenig zu viel Schnee“ die am meisten verwendeten Geländebezeichnungen dafür sind. Die am häufigsten gefährdeten „Expositionen“ und „Höhenlagen“ werden im Lagebericht grafisch dargestellt und sind schwarz eingefärbt.
Das Altschneeproblem und die Schwachschicht
Besonders beim Lawinenproblem Altschnee tritt die Gefahrenstelle „Übergang von wenig zu viel Schnee“ (siehe „Gefahrenstellen“) häufig auf. Das Altschneeproblem ist typisch für schneearme Winter mit einer geringmächtigen Schneedecke. Bei wenig Schnee ist der Prozess der Schneeumwandlung in kantige Kristalle wesentlich stärker ausgeprägt als bei einer mächtigen Schneedecke, wo dieser Prozess zum Erliegen kommt. Deshalb ist das Altschneeproblem gern in Schattenhängen ausgeprägt und kann in schneearmen Wintern über Wochen und Monate bestehen bleiben.
Für „unsere“ Gefahrenstelle „Übergang von wenig zu viel Schnee“ ist die Lage der Schwachschicht von zentraler Bedeutung. Wie wir bereits wissen, können wir diese umso leichter stören, je näher sie an der Schneeoberfläche liegt. Damit sich nach erfolgter Belastung ein Bruch in einer Schwachschicht ausbreiten kann, muss die Schwachschicht möglichst homogen und großflächig verteilt sein. Ist dies der Fall, sprechen wir von einer geringen Variabilität der Schwachschicht. Im Gegensatz dazu wäre eine große Variabilität der Schwachschicht – z.B. wenn diese nur kleinräumig, mit Unterbrechungen und stabileren Bereichen vorhanden ist – von Vorteil.
Bei einem stark ausgeprägten Altschneeproblem mit einer großflächig verteilten, homogenen Schwachschichte kann es auch zu sogenannten Fernauslösungen im flachen Gelände kommen. Die Folge: Hänge brechen über weite Strecken. Der Anriss ist dann weit über dem Schneesportler bzw. der Schneesportlerin, womit er sich im Moment des Abgangs bereits mitten in der Lawine befindet. Zudem nimmt die Schneebrettlawine rasend schnell Fahrt auf und erreicht in wenigen Sekunden eine Geschwindigkeit von 70 bis 80 km/h, was eine Flucht aus der Lawine in dieser Situation schwierig bis quasi unmöglich macht.
Fazit
Die Stabilität der Schneedecke steht in Abhängigkeit zur Lage und Ausprägung der Schwachschicht. Bereiche am Übergang von wenig zu viel Schnee sind deshalb meist besonders kritisch zu beurteilen. Da bei einem Altschneeproblem die Gefahr mehr oder weniger in der Tiefe verborgen schlummert, müssen wir genauere Informationen zu den Gefahrenstellen der Beschreibung der Lawinengefahr im Lawinenlagebericht entnehmen.
Gerhard Mössmer ist Berg- und Skiführer, Mitarbeiter in der Abteilung Bergsport und zuständig für Lehrschriften und Lehrteam.
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