Eine Geschichte von grauen Herrn, der dunklen Nacht und einer klugen Pinkelpause
Hand aufs Herz: Wer kennt sie nicht, die grauen Herrn aus Michael Endes „Momo“? Zumindest jede und jeder, der in den 1980ern bei einem Camp der Alpenvereinsjugend dabei war und am Abend im Matratzenlager ganz gespannt der/dem vorlesenden Jugendleiter*in an den Lippen hing, weiß genau, von wem die Rede ist: den Agenten der Zeitsparkasse, die laufend versuchen, unsere Zeit zu stehlen.
ZEIT!
Diese zwar mess-, aber nicht wirklich greifbare Dimension bestimmt unser Leben in jeder Sekunde: Selten haben wir zu viel davon, meistens – und insbesondere im Alltag – rennen wir ihr hinterher. Deshalb ist Zeit inzwischen ein sehr wertvolles „Gut“, quasi ein „Statussymbol“ unserer, von Zeitdruck geprägten Gesellschaft geworden. Man kann grundsätzlich nie genug davon am Konto seiner Zeitsparkasse haben. Wer es sich im Job leisten kann, unter der Woche die ersten Spuren in den Tiefschnee zu ziehen, wird bewundert und hat vermutlich einiges richtig gemacht.
Und wer sich viel Zeit nimmt, um viele Tage draußen zu verbringen, weiß, wie wertvoll und wichtig viel Zeit für viel Wohlbefinden ist. Im Umkehrschluss ist wenig Zeit auch oft verantwortlich für wenig Wohlbefinden, obwohl wir grundsätzlich alle – zumindest theoretisch – gleichviel Zeit auf unserem Konto zur Verfügung hätten. Besonders wir Bergsportler*innen nehmen uns natürlich – so gut es geht – möglichst viel Zeit für die Berge. Denn dort oben können wir Zeit verbringen, um diese zu vergessen. Luxus pur!
Allerdings hat die Sache einen Haken: Der Berg ist leider kein zeitloser Raum. Im Gegenteil. Die aschgrauen, Zigarre rauchenden Herrn der Zeitsparkasse schaffen es auch hinauf ins Gebirge. Sie kommen in die hintersten Winkel, wo die Zeit ohnehin stehen zu bleiben scheint, um uns dort oben diese zu stehlen.
Wie kann es sonst sein, dass „in Not geratene Bergsteiger*innen von der Dunkelheit überrascht wurden“ oder dass „Bergsteiger*innen die letzte Talfahrt verpassten und im freien Biwakieren mussten“? Und wie kann es sonst sein, dass viele von uns, bevor sie losstarten, auf den roten Knopf ihrer Uhr drücken und versuchen, um 2,54 Sekunden schneller am Gipfel zu sein als am Wochenende davor? Aber das ist eine andere Geschichte …
Es könnte natürlich auch sein, dass neben den zeitstehlenden grauen Herren der rosarote Panther sein Unwesen in den Bergen treibt und regelmäßig an den Uhren in Not geratener Bergsteiger*innen dreht. Wir wissen es nicht. Was wir aber wissen, ist, auch wenn wir es nicht wahr haben wollen, dass Zeit am Berg eine wesentliche Rolle spielt und bestimmte Parameter die benötigte Zeit für eine Tour wesentlich beeinflussen. Häufig ist fehlende Zeit, oder umgekehrt: eine viel zu lange andauernde Tour, die Ursache für Unfälle und/ oder Blockierungen.
SCHLÜSSELFAKTOREN DER ZEIT
Schauen wir uns diese Parameter anhand der bekannten Schlüsselfaktoren Gelände, Verhältnisse und Mensch genauer an, werden wir schnell zu der Erkenntnis kommen, dass wir bei einigen Zeit gewinnen, aber auch sehr viel Zeit verlieren können.
GELÄNDE
Das Gelände bzw. die Route können wir klarerweise nicht beeinflussen. Deshalb gehen auch alle gängigen Zeitangaben bzw. Zeitberechnungen von den Fakten Höhenmeter [m] und Entfernung [km] aus. Klarerweise ist die benötigte Zeit für diese beiden Größen abhängig vom Tempo der Person bzw. der Gruppe. Zur ungefähren Berechnung des Zeitbedarfs bei Wanderungen und einfachen Hochtouren hat sich in Österreich folgende Faustformel etabliert: Eine durchschnittliche Gruppe schafft in etwa 300 Höhenmeter pro Stunde im Aufstieg und ungefähr das Doppelte, also 600 Höhenmeter pro Stunde, im Abstieg und kann eine Distanz von vier Kilometern pro Stunde zurücklegen.
Wenn man den kleineren der beiden Zeitwerte nun halbiert und anschließend die Summe bildet, entspricht dies in etwa der Gehzeit, die eine durchschnittliche Gruppe für die Etappe benötigen würde. Dann nehmen wir die Gesamtzeit und errechnen die Startzeit, indem wir jene Uhrzeit definieren, zu der wir spätestens wieder zu Hause oder am Bahnsteig oder (z. B. bei drohendem Gewitter mit reichlich Spielraum) wieder in der Hütte sein wollen. Während der Tour kontrollieren wir an neuralgischen Punkten, z. B. am Einstieg oder vor Beginn der Schwierigkeiten, ob wir noch im Zeitplan liegen. Bei großen Touren, bei denen es evtl. auch Abbruch- oder Umkehrmöglichkeiten gibt, definieren wir bereits in der Planung einen (Umkehr)Punkt, bei dem wir auf jeden Fall zu einer bestimmten Zeit sein müssen, um die gesamte Tour noch vernünftig meistern zu können.
Bei Klettersteigen, Klettertouren und anspruchsvollen Hochtouren funktioniert diese Faustformel freilich nicht mehr. Hier kommen als wesentliche Parameter für die Zeitangaben in der Führerliteratur noch die maximalen technischen Schwierigkeiten, die Verteilung der Schwierigkeiten und bei Klettertouren noch die Absicherung, Absicherbarkeit sowie Felsqualität, Orientierung und Routenfindung hinzu. Die Zeiten für Zu- und Abstieg werden deshalb auch getrennt von der Zeit für die eigentliche Tour angeführt. Ist im selben Kletterführer eine Tour mit 300 Höhenmetern im VI. Grad mit drei Stunden angegeben und demgegenüber eine andere Klettertour im gleichen Schwierigkeitsgrad mit nur 200 Höhenmetern ebenfalls mit 3 Stunden, lässt sich alleine aus der Zeitangabe schließen, dass die Anforderungen bei der kürzeren Tour höher sein müssen.
MENSCH / GRUPPE
Ausgehend von der angegebenen Zeit aus der Führerliteratur bzw. von unserem errechneten Wert für durchschnittliche Bergsteiger*innen, beeinflussen wir als Einzelperson bzw. als Gruppe wesentlich, wie lange die Tour tatsächlich dauern wird. Die größte Rolle dabei spielt natürlich das Einzelkönnen. Dieser Parameter kann extrem viel Zeit einsparen, aber – passt das Können nicht zur Tour – auch extrem viel Zeit kosten. Sind gleich mehrere Teilnehmer*innen überfordert, summiert sich der Zeitbedarf in der Gruppe schnell auf. Umgekehrt bedeutet es aber nicht, dass eine Gruppe mit jeweils hohem Eigenkönnen immer schnell ist.
Ist diese Gruppe zu groß bzw. ist die Verantwortungslage ungewiss (was bei gut ausgebildeten Gruppenmitgliedern häufig der Fall ist), wird auch diese Gruppe ab einer gewissen Größe langsamer sein als ein Individuum aus derselben Gruppe. Apropos Gruppengröße: Irgendwann ist jede Gruppe zu groß und wird langsam, egal, wie gut die einzelnen Teilnehmer*innen sind. Deshalb ist es wichtig, dass die Gruppengröße auch zur Tour passt.
Natürlich kann man durch höheres Tempo beim Gehen Zeit „gut machen“. Allerdings geht das nur, wenn die Gruppe homogen ist und alle (!) Gruppenmitglieder konditionell dazu in der Lage sind, das Tempo zu halten. In vielen Fällen ist das nicht möglich, da man Gruppenmitglieder langfristig überfordert.
Der größte Fehler ist ein zu hohes Anfangstempo beim Losgehen, denn damit erreicht man genau das Gegenteil: Die Teilnehmer*innen ermüden schnell und dann geht – auch schnell – nix mehr. Also besser langsam anfangen und dann kann man, wenn’s für alle passt, immer noch schneller werden. Diese taktische Maßnahme funktioniert allerdings nur, wenn sich jemand dafür verantwortlich fühlt, z. B. der oder die Tourenführer*in.
Durch eine klare Verantwortungslage kann auch in weiterer Folge recht effizient und ohne dass beim Tempo aufs Gaspedal gedrückt werden muss, relativ viel Zeit eingespart werden: Legt man die Pausen taktisch richtig und verbindet das Angenehme, wie die Jause, mit dem Nützlichen, wie der Pinkelpause, dem Kleidungswechsel, dem Anseilen oder dem vorausschauenden Blick auf die Karte, kann man nur gewinnen.
Nicht nur die eigene, auch andere Gruppen können unseren Zeitplan gehörig durcheinanderbringen. Das kann im schlimmsten Fall so weit gehen, dass man die Tour sogar abbrechen muss, weil am Einstieg oder an der Schlüsselstelle alles steht. In seltenen Fällen kann es aber auch von Vorteil sein und Zeit bringen, wenn noch andere Bergsteiger*innen unterwegs sind, die z. B. den Weg kennen oder uns die Spurarbeit abgenommen haben.
VERHÄLTNISSE
Last but not least entscheiden – neben dem Faktor Mensch – die herrschenden Verhältnisse in hohem Maße darüber, ob wir unseren Zeitplan einhalten können oder nicht. Leider können wir diese nicht beeinflussen und leider verschiebt sich der Zeiger meist zu unseren Ungunsten, denn die Zeitangaben beziehen sich auf mehr oder weniger optimale Bedingungen. Vor allem Nässe und/oder Vereisung am Fels, womöglich noch in Kombination mit höheren Schwierigkeiten als erwartet, können unser Zeitmanagement gehörig durcheinanderbringen:
Manchmal reichen wenige Stellen mit schlechten Verhältnissen aus und die grauen Herren haben uns schon wieder eine Stunde von unserem wertvollen Konto abgeknöpft. Auch ein ausgeaperter Übergang, ein Gletscher mit viel mehr offenen Spalten oder ein schwer überwindbarer Bergschrund nach einem schneearmen Winter können Gründe sein, die unsere Tour erheblich länger dauern lassen. Bei schneebedeckten Eistouren sind die Verhältnisse hingegen besser und dementsprechend wird man auch schneller sein als berechnet.
Wind, Temperatur und Niederschlag lassen uns in der Regel auch eher langsamer als schneller werden (außer, es sind nur noch wenige Meter bis zum Ziel!). Sie fordern uns physisch und psychisch, was sich wiederum auf unseren Kräftehaushalt niederschlägt und zudem werden die Verhältnisse durch diese Wetterfaktoren auch nicht besser.
FAZIT
Wie so oft im Bergsport lautet das Zauberwort „Tourenplanung“, denn „erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.“ Wollen wir also nicht von der Nacht bzw. der nahenden Kaltfront überrascht werden (die übrigens beide so sicher kommen wie das Amen im Gebet), in ein Gewitter kommen, die Bahn verpassen oder völlig erschöpft sein, sondern rechtzeitig beim kühlen Blonden im Gasthaus sitzen, ist es wichtig, dass wir uns im Vorfeld der Tour über das Gelände, den Menschen bzw. die Gruppe und die Verhältnisse Gedanken machen.
Bereits ein Parameter kann unseren Zeitplan so gehörig durcheinanderbringen, dass wir in Schwierigkeiten geraten können. Eine ehrliche, realistische Zeitplanung zuhause mit entsprechend Spielraum bei unsicheren Parametern erspart uns (hoffentlich) Kopfweh auf Tour. Sollten dennoch alle Stricke reißen und wir aufgrund Zeitmangels in ärgere Bedrängnis kommen, ist es wichtig, dass wir uns rechtzeitig der Situation stellen: Wir setzen den Notruf rechtzeitig – (weit) vor Einbruch der Dunkelheit ab oder beginnen frühzeitig damit, einen geschützten Ort für die Nacht zu finden bzw. zu bauen, um nicht von dieser überrascht zu werden…
Gerhard Mössmer ist Berg- und Skiführer, Mitarbeiter in der Abteilung Bergsport und zuständig für Lehrschriften und Lehrteam.
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