Und was die Alpenvereinsjugend damit zu tun hat
Meine Nichte hatte vor dem Sommer ihren letzten Tag im Kindergarten. Was manchen Eltern wehmütige Tränen in die Augen treibt, weil die Kleinen nun schon „so groß“ sind und sich die Kleinkind-Zeit nun offiziell dem Ende zuneigt, nahmen ihre Pädagoginnen zum Anlass für eine Party. Eine „Rausschmiss-Party.“
Direkt vor der Tür des Kindergartens lag eine große, weiche Turnmatte. Draußen standen entlang der Matte links und rechts alle Kindergartenkinder und Eltern in einer Reihe. Sie lachten, schauten gespannt und mit offensichtlicher Vorfreude auf die Tür. Dort standen die beiden Pädagoginnen, sie schaukelten meine Nichte vor und zurück und stimmten gemeinsam mit allen Kindern an:
„1, 2, 3, die Kindergartenzeit vorbei. 4, 5, 6, ab in die Schule jetzt!“
Genau mit Ende dieses Spruchs setzten sie meine Nichte schwungvoll auf die Matte vor der Tür des Kindergartens. Mit Lachen und Klatschen bejubelten sie die anderen Kinder und sie hatte sichtlich Riesenspaß. Genau so wurden auch alle anderen Kinder, deren Schullaufbahn nun im Herbst beginnt, verabschiedet.
Mich begeisterte die Umsetzung dieser „Rausschmiss-Party“ als Ritual, das diesen Übergang vom Kindergarten- zum Schulkind markiert, sehr. Die Schüler*innen in spe wurden von allen beklatscht, der letzte Kindergartentag gefeiert, alle Kinder und Eltern hatten Gelegenheit, sich zu verabschieden. Bei mir entstand der Eindruck, dass diesen Kindern vermittelt wird, dass Übergänge in neue Lebensabschnitte zwar Veränderung bringen und Abschied bedeuten, jedoch etwas Positives und Stärkendes sein können.
Übergänge
Übergänge sind Teil unseres Lebens. Der Eintritt in die Schule, die Pubertät, der Start ins Erwerbsleben, der Auszug aus dem Elternhaus, die Geburt des ersten Kindes oder die Pensionierung sind Phasen und Ereignisse, die den Wechsel in neue Lebensabschnitte markieren. Viele sind erwartbar, erwünscht und wichtig. Diese Ereignisse werden als „normative Lebensereignisse“ bezeichnet, weil die meisten Menschen sie früher oder später durchleben. Dabei können wir auch „nicht-normative Ereignisse“ erleben, wie etwa die Diagnose einer Krankheit oder einen Unfall. Sie treffen also nicht jede Person und treten oft plötzlich und unerwartet auf.
Ob erwünscht oder unerwünscht, normativ oder nicht-normativ: Übergänge gehen mit Veränderungen einher, die durchaus herausfordernd sein können. Solche Phasen und Ereignisse können unser Leben auch ganz schön auf den Kopf stellen. Sie können verunsichern, manchmal sogar Krisen auslösen, wenn die Strategien und Ressourcen im Umgang mit der Situation und ihrer Bewältigung nicht ausreichen.
Die gute Nachricht: Solche Herausforderungen sind zwar nicht unbedingt angenehm, jedoch haben sie bei positiver Bewältigung einen stärkenden Effekt auf uns, unsere Entwicklung und das Meistern weiterer Herausforderungen.
Kurzum, sie fördern unsere Resilienz.
Was ist Resilienz eigentlich?
Obwohl es keine einheitliche Definition von Resilienz gibt, besteht Einigkeit darin, dass von Resilienz dann gesprochen werden kann, wenn es eine Widrigkeit oder belastende Situation gibt, die positiv bewältigt wurde. Im deutschsprachigen Raum wird Resilienz häufig als „psychische Widerstandskraft gegenüber biologischen, psychologischen und psychosozialen Entwicklungsrisiken1“ verstanden.
Der Begriff „Resilienz“ fand seine ursprüngliche Verwendung in der Physik und Materialkunde. Beschrieben wurde damit die Eigenschaft eines Materials, nach einer Außeneinwirkung wieder in seine ursprüngliche Form zurückzufinden. Als Pionierinnen der psychologischen Resilienzforschung gelten Emmy Werner und Ruth Smith. Die Forscherinnen unternahmen eine Kohortenstudie auf der hawaiianischen Insel Kauai, in der sie den gesamten Geburtsjahrgang der 1955 geborenen Kinder über 40 Jahre lang begleiteten.
Sie wollten herausfinden, wie sich Lebensumstände, die als ungünstig betrachtet wurden, auf die Entwicklung der Kinder auswirkten. Dabei fanden sie heraus, dass sich ein Drittel jener, die unter erschwerten Bedingungen – wie etwa Armut, Kriminalität oder Gewalterfahrungen – aufwuchsen, trotzdem sehr gut entwickelten und psychisch gesund sowie sozial integriert blieben. Sie untersuchten in weiterer Folge die Gründe für diese positive Entwicklung trotz widriger Umstände.
Die Resilienzforschung beschäftigt sich also grundsätzlich mit der Frage, was dazu beiträgt, dass wir uns trotz aller Widrigkeiten des Lebens gut entwickeln.
Dabei wurde herausgefunden, dass es Faktoren gibt, die im Zusammenhang mit Resilienz besonders relevant sind. Diese werden Resilienz- oder Schutzfaktoren genannt. Als wichtige Resilienzfaktoren gelten2:
- Selbst- und Fremdwahrnehmung
- Selbstregulation
- Selbstwirksamkeit
- Soziale Kompetenz
- Aktive Bewältigungskompetenzen
- Problemlösen
Unter Resilienzfaktoren versteht man also Merkmale oder Kompetenzen, die zur Bewältigung herausfordernder, ungünstiger oder bedrohlicher Umstände beitragen.
Noch eine gute Nachricht: Resilienz ist kein stabiles Persönlichkeitsmerkmal, das manche haben und andere nicht. Kinder und Jugendliche können bei der Entwicklung ihrer Ressourcen, Stärken und Bewältigungsmöglichkeiten unterstützt werden. Als stabilster Faktor für die Entwicklung von Resilienz gilt eine wertschätzende, zugewandte, stabile Beziehung zu einer vertrauensvollen, unterstützenden (erwachsenen) Bezugsperson.
Häufig sind das die Eltern, jedoch geht aus der Resilienzforschung hervor, dass auch andere Bezugspersonen diese Rolle einnehmen können. Das können etwa die Lehrerin, der große Bruder, die Großmutter, der beste Freund, die Klettertrainerin oder der Sommercampleiter sein. Wichtig ist, wie die Beziehung gestaltet ist, damit sie sich positiv auswirkt.
Was hat die Alpenvereinsjugend mit dem allem zu tun?
Als eine der größten Jugendorganisationen Österreichs bietet die Alpenvereinsjugend eine sehr facettenreiche Jugendarbeit. Menschen engagieren sich generationsübergreifend oder zum Teil schon seit vielen Jahren für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Verein. Viele entdeckten ihre Begeisterung für die Natur und das Draußensein als Kind in einer Jugendgruppe und begleiten heute selbst als Erwachsene Kinder, Jugendliche und Familien bei ihren Tagen draußen.
Und das häufig nicht nur an ein paar einzelnen Tagen, sondern auch über unterschiedliche Lebens- und Entwicklungsphasen hinweg. Sie erleben mit, wie Kinder und Jugendliche von der Unter- in die Oberstufe wechseln, welche Ausbildungswahl sie treffen, wie sich Interessen und Freundschaften entwickeln oder verändern. Auch, wenn es nicht im Fokus der Jugendarbeit im Verein steht: Weil wir alle früher oder später diese Übergänge erleben, betreffen sie auch den Vereinsalltag – ebenso wie alle anderen Lebensbereiche.
Dabei haben Funktionär*innen in der Jugendarbeit die Möglichkeit, selbst zur Förderung von Resilienz der Kinder und Jugendlichen, die wir begleiten, beizutragen. Egal, ob es um den großen Sprung im Bikepark, die unbezwungene Kletterroute, die Übernachtung unter freiem Himmel oder einfach nur darum geht, ein Lagerfeuer zu entfachen: Sie können ihnen die Chance geben, sich selbst zu erproben. Ihnen zeigen, dass sie an sie glauben, auch wenn es die Kinder und Jugendlichen vielleicht manchmal selbst nicht tun. Auch, wenn die Wanderung noch so lang und beschwerlich scheint – ist man am Ziel und die Hütte erreicht, kann man sich beim gemeinsamen Essen darüber freuen, wie schön es ist, trotz der Strapazen des Weges und der Gedanken des Aufgebens, angekommen zu sein.
Sie können Kinder und Jugendliche dazu einladen, sich einzubringen, mitzubestimmen, ihnen zuhören. Dabei können diese erfahren, (altersgerechte) Verantwortung zu übernehmen, etwa beim Sichern des/der Kletterpartner*in. Sie können Kinder und Jugendliche darin bestärken, ihre Grenzen zu erkennen und „Nein“ zu sagen, wenn sie an diesen angelangt sind. Vielleicht „scheitern“ sie auch an dem ein oder anderen Vorhaben, egal ob am Fuße des Klettersteigs, am Bike-Trail, beim Lagerfeuermachen oder dem Stockbrot-Teig. Dann können sie ihnen vermitteln, dass deshalb die Welt auch nicht untergeht.
So wie die eingangs erwähnten Pädagoginnen meine Nichte symbolisch in einen neuen Lebensabschnitt „geschickt“ haben, so begleiten auch die Funktionär*innen des Alpenvereins Kinder und Jugendliche während wichtiger Entwicklungsschritte. Dass ihnen dabei auch das Rüstzeug mitgegeben werden kann, ihre Stärken und Ressourcen zu entdecken und einzusetzen, ist ein unschätzbarer „Nebeneffekt“ der gemeinsamen Tage draußen.
Quellen:
Müller-Belau, K. (2024, 30.07.2024). Der Weg zur inneren Stabilität bei Kindern und Jugendlichen. Resilienzförderung bei Kindern und Jugendlichen in der Gruppe/Schulklasse. Aktion Kinder- und Jugendschutz Schleswig-Holstein e. V. Fachstelle für Prävention (Hrsg.), https://akjs-sh.de/unsere-themen/praevention/seelische-entwicklungen/resilienzfoerderung/
Rönnau-Böse, M. und Fröhlich-Gildhoff, K. (2020). Resilienz und Resilienzförderung über die Lebensspanne. Verlag W. Kohlhammer. ISBN 978-3-17-035589-7
Wustmann, C. (2004). Resilienz. Widerstandsfähigkeit von Kindern in Tageseinrichtungen fördern. Weinheim: Beltz.
Victoria Bischof ist Mitarbeiterin bei der Alpenvereinsjugend Österreich und für den Bereich Kinderschutz & Gewaltprävention zuständig. Ehrenamtlich engagiert sie sich beim Wegeteam der Sektion Hall in Tirol.
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