Cover-Photo: Zac Moss

Die Geschichte einer kletternden Freiheitskämpferin

„Ich möchte allen Frauen auf der Welt sagen, dass sie ihren Träumen folgen sollen, nichts anderes zählt“. Nasim Eshqi

Spätestens seit dem 16. September 2022, als Mahsa Amini in Teheran nach einer Verhaftung verstarb, ist der gesellschaftliche Konflikt im Iran auch in unseren Medien wieder sehr präsent. Der Unterschied zu früheren Protestbewegungen wie der Studentenrevolution im Jahr 1999 oder der Grünen Revolution 2009 liegt darin, dass sich der Widerstand durch sämtliche gesellschaftliche Schichten zieht. Ein Ende der Proteste ist nicht absehbar. Auch dieser Konflikt hat bereits zahlreiche Todesopfer gefordert, vier junge Iraner wurden bis heute hingerichtet.

Iraner sind grundsätzlich sehr sportbegeistert. Das macht die Athleten zu Meinungsführern- auch in der Protestbewegung. Der iranische Ringer Shoan Vaisi war bis 2011, nach seiner Flucht nach Deutschland, Teil des Nationalteams. Er versteht, dass sich aktive Athleten mit Kritik zurückhalten und meint: „Für viele ist Profisport der einzige Weg aus der Armut. Und wer Kritik übt, hat keine sportliche Perspektive mehr!“

Nasim Eshqi – Kletterin und Freiheitskämpferin

Zurückhaltung ist eine Eigenschaft, die Nasim Eshqi nicht kennt. Und das nicht nur beim Klettern. Meinen ersten Kontakt mit Nasim hatte ich vor sieben Jahren in der Türkei. Wir begegneten uns in einem Klettercamp in Geyikbayiri. An einem Ruhetag fragte sie mich, wohin ich denn zum Klettern gehen würde und als ich ihr erklärte, dass ich heute „Restday“ hätte, brach sie in schallendes Gelächter aus. „You Europeans are so funny! You´re resting all the time! You will never get stronger!”

Danach verbrachten wir einige Tage gemeinsam am Fels und ich hatte die Möglichkeit, Nasim besser kennenzulernen. Auch wenn ich das Konzept des pausenlosen Kletterns bis heute nicht nachvollziehen kann, hat mich Nasim immer wieder aufs Neue verblüfft.

Nasim wurde 1982 in Teheran geboren und begann ihre sportliche Karriere als Kickboxerin. Sie gewann die Iranischen Nationalmeisterschaften zehn Mal in Folge – bis sie auch hier angehalten war, bei internationalen Wettbewerben ihre Haare zu bedecken. Gleichzeitig entdeckte sie das das Bergsteigen und kam so zum Klettern. Im Alter von 23 beschloss Nasim, dass Klettern das war, was sie für den Rest ihres Lebens machen wollte und verbrachte von nun an jede freie Minute am Fels.

Obwohl Nasim viele schwere Sportkletterrouten punkten konnte (Mr nobody and extension Ms nobody 8b/b+), liegt ihr Fokus auf alpinen Mehrseillängen und Trad-Routen. In Kletter- und Coachingkursen brachte sie vielen begeisterten Neulingen das Klettern näher und hat sich in der Szene rund um den Globus einen Namen gemacht.

Nasim Eshqi
Foto: Zac Moss

2018 wurde Nasim mit dem Albert Mountain Award ausgezeichnet. Die Begründung wie folgt:

„Harnessing her remarkable willpower, courage and strength, Nasim Eshqi surpasses her own limitations on rock as well as those set by the environment. She gained recognition on the international climbing scene and is a source of inspiration for young athletes worldwide.”

Der Tod von Masha Amini stellte einen Wendepunkt in Nasims Leben dar.

„We are all Masha Amini!“

Wie viele andere Frauen wurde auch Nasim des Öfteren von der Sittenpolizei im Iran inhaftiert. Sie saß im selben Gefängnis wie Masha Amini und wurde beschimpft und eingeschüchtert. „Ich traute mich für Tage nicht mehr aus dem Haus und genau das ist es, was das Regime damit erreichen will!“ Im vergangenen Jahr traf Nasim eine folgenschwere Entscheidung und flüchtete aus dem Iran. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten versucht sie nun, sich in Italien ein neues Leben aufzubauen. Ich habe mit Nasim gesprochen und ihr einige Fragen gestellt:

Nasim, wie geht es euch aktuell in Europa und wie hat sich eure Situation hier entwickelt?

Ich fühle mich sicher. Ich habe das Gefühl, dass ein ganzes neues Leben vor mir liegt – wie ein Berg, der entdeckt werden will, ein neues Kapitel in meinem Leben. Ich muss viel lernen, viel tun. Es fühlt sich so an, als wäre ich auf einen Berg gestiegen und hätte den Gipfel erreicht. Aber sobald ich am Gipfel stand, habe ich erkannt, dass dieser nur Teil eines größeren Berges ist und ich noch nicht wirklich am Gipfel angekommen bin. Der eigentliche Gipfel ist viel weiter oben. Also hole ich tief Luft und beginne, wieder nach oben zu gehen. Normalerweise ist es nach jahrelanger Erfahrung an der Zeit, von allem zu profitieren, was man bisher gemacht hat oder zumindest der Weg ist klarer. Aber in meinem Fall muss ich wieder ganz von vorne beginnen. Mein Zeugnis, mein Führerschein. Die westliche Gesellschaft erkennt nur ihre eigenen Papiere an. Wie auch immer, ich habe einen Weg vor mir und es gibt keinen Weg zurück.

 

Was hat euch schlussendlich bewogen, diesen Schritt zu gehen und eure Heimat endgültig zu verlassen?

Ich wollte mich nicht mehr selbst zensieren. Ich wollte nicht im Gefängnis landen. Ich war mir sicher, dass ich im Gefängnis lande oder hingerichtet werde, wenn ich zurück in den Iran gehe. Viele Jahre lang habe ich versucht, mein Umfeld zu ändern und habe das auch geschafft. Ich habe mir einen neuen Job im Iran geschaffen, bin meinen Träumen treu geblieben, ich habe mich geweigert, zusammen mit der Regierung ein Teil der Korruption zu sein. Ich habe nie in irgendeiner Weise mit der Regierung zusammengearbeitet.

 

Natürlich habe ich viele Vorteile verloren, die ich als unterstützte Athletin unter dem islamischen Regime im Iran hätte haben können. Ich war alleine. Trotz meiner Erstbegehungen und meiner neu eingebohrten Routen, sogar in großen Höhen, oder der Erschließung neuer Klettergärten mit meinem eigenen Budget und allem, was ich beim Klettern erreicht habe – war mein Name ausschließlich in westlichen Medien vertreten, aber wurde nie in iranischen Medien oder sogar im Verband erwähnt. Nur weil ich nicht unter ihrer Flagge arbeitete und mir nicht befehlen ließ, meine Haare beim Klettern zu bedecken. Ich wurde mehrere Male verhaftet und habe das Glück, noch nicht tot zu sein. Und das alles, weil das islamische Regime Mädchen zu nichts anderem inspirieren will, als Kinder zu gebären. Ich möchte nicht Teil dieses Systems sein.

 

Wie schätzt du die aktuelle Lage im Iran ein? Ist ein Ende der Proteste und ein Einlenken des Regimes überhaupt denkbar?

Die aktuelle Situation ist traurig, aber gleichzeitig ein Schritt in eine bessere Zukunft. Ich freue mich, dass die Frauen im Iran ihr Schneckenhaus zerbrechen, herauskommen und sich für ihre Freiheit einsetzen. Das brauchen wir – unabhängig zu sein und Unterdrückung nicht hinzunehmen.

 

Wie ergeht es eurem Freundeskreis und eurer Familie? Habt ihr viel Kontakt zu ihnen?

Jede*r im Iran ist in Gefahr, verhaftet oder getötet zu werden. Denn heutzutage gilt alles, was man im Iran tut, selbst sich auf der Straße zu zeigen, als Verbrechen. Sogar meine Familie ist in Gefahr. Ich kann kaum mit ihnen sprechen und es ist sehr schwierig. Das Internet ist abgeschaltet ist und meine Familie muss eine Proxy oder VPN-Verbindung verwenden, um ihre E-Mails checken zu können.

 

Welchen Stellenwert hat das Klettern momentan für dich? Habt ihr überhaupt Zeit und Möglichkeiten zum Klettern?

Klettern ist gerade Therapie für mich. Natürlich ging Klettern für mich immer mit Gefühlen  von „Freiheit“ und „Gleichheit“ einher. Diese Gefühle sind immer da. Dieser Tage ist es aber eher eine Therapie für einen Kopf, der voller schlechter Nachrichten von iranischen Hinrichtungen ist. Ich finde immer Zeit zum Klettern oder Laufen, auch in der härtesten und dunkelsten Zeit meines Lebens. Mal weniger, mal mehr. Natürlich konzentriere ich mich in diesen Tagen darauf, mich in einer anderen Gesellschaft einzuleben. Aber Berge und Felsen sind die Einzigen, die immer bei mir sind, mich verstehen, mir auf die Schulter klopfen und mir sagen: „Gib nicht auf, wir stehen dir immer bei“.

Habt ihr bereits Pläne wie ihr euer Leben hier in Europa gestalten wollt?

Ich habe einige Pläne. Vielleicht klappen sie, vielleicht auch nicht. Aber ich probier’s trotzdem. Ich möchte mir eine neue Existenz aufbauen. Einen neuen Weg einschlagen, der Perspektiven verändert und eine Karriere, die inspiriert. Besonders in den Bergen. Ich habe das Gefühl, dass die Zeiten vorbei sind, in denen männlich dominierte Ansichten vorgeben, wie die Dinge in den Bergen zu tun sind. Die Berge sind eigentlich ein Ort für alle. Ich sehe die Berge aus der Perspektive einer Frau und möchte das nicht ändern. Ich möchte mehr die Perspektiven einer Frau in die Kletterwelt bringen, die in so vielen Aspekten sehr anders und meiner Meinung nach flexibler und breiter sind. Ich sehe, dass die Klettergemeinschaft die Stärke der Weiblichkeit vermisst, und zwar derart, dass ein Held zu sein das ist, was eine männliche Denkweise darüber denken kann, während es einige andere Perspektiven gibt, die ignoriert und unterschätzt werden.

 

Was möchtest du Mädchen und jungen Frauen auf den Weg geben – hier in Europa und auch in deiner Heimat?

Ich möchte allen Frauen auf der Welt sagen, dass sie ihren Träumen folgen sollen, nichts anderes zählt. Sie sollten ihre Meinung sagen, auch wenn sie gegen das gesellschaftlich akzeptierte Bild verstößt. Zu den iranischen Frauen, besonders in dieser speziellen Situation der Revolution, muss ich nichts sagen. Sie kämpfen und geben ihr Leben für die Freiheit und ich möchte ihre Stimme sein.

 

Was kann jeder Einzelne tun, um ein Umdenken und eine Änderung in deiner Heimat herbeizuführen?

Zuallererst ist es wichtig, sich dessen bewusst zu sein, was gerade passiert. Wissen ist Macht. Wenn die Menschen wissen, was das islamische Regime Frauen antut und wie sie daran gehindert werden, sich zu bilden, aber auch an vielem mehrgehindert werden, können sie sie unterstützen und über die aktuelle Situation sprechen – und zwar Zuhause, im Büro, bei der Arbeitsstelle und schlussendlich auch im Parlament. So würde niemand gewählt werden, der Diktatoren unterstützt. Firmen und Organisationen würden diesem terroristischen Regime nicht die Hand reichen. Als Mensch sollten sie nicht schweigen, wenn sie sehen, dass dort die Menschenrechte fehlen. Denn ein Schweigen nährt die Diktatoren und dann – früher oder später-  ist es deren eigenes Gebiet, das von unersättlichen Diktatoren besetzt ist.

Vor unserem Interview schreibt mir Nasim diese Zeilen:

„My mental state has to stay in a way as if I came out from a big earthquake and I have to build everything again. This way I feel better.” Unweigerlich stelle ich mir vor, was ich in dieser Situation machen würde. Meine momentanen Probleme wie „schlechter Winter mit wenig Schnee“, „Männerschnupfen“ oder „mangelnde Kletterform“ kommen mir beinahe satirisch lächerlich vor. Wie groß muss eigentlich die Belastung sein, ohne finanzielle Ressourcen in ein neues Land auszuwandern und seine Familie zurückzulassen? Weder haben die erlernte Sprache noch die in der Heimat absolvierten Ausbildungen Gültigkeit. Ein soziales Netz ist nicht vorhanden und scheinbar kleine Probleme oder Hürden erscheinen unüberwindbar. Die beinahe schon unwirklich anmutende positive Einstellung und der Tatendrang von Nasim täuschen ein wenig über die aktuelle Lage hinweg: „One day we will laugh about all this!“

Nasim Eshqi ist Kletterin, Freiheitskämpferin und Idol für viele junge Mädchen und Frauen. Sie träumt von einem Iran, in dem Frauen studieren dürfen, den Männern gleichgestellt sind und ohne Kopftuch auf die Straße gehen dürfen.

„We love to feel the wind in our hair too!”,

sagt sie auf der Bühne der Alpinmesse in Innsbruck. Im Saal ist es betroffen still. Was uns täglich über Medien und soziale Netzwerke streift, ist plötzlich real und trifft uns mit voller Wucht. Unweigerlich stellt sich die Frage, was wir, was jeder Einzelne von uns tun kann? Hinsehen, informieren, nicht ignorieren, Social Media-Inhalte teilen, im Freundeskreis darauf aufmerksam machen und Persönlichkeiten wie Nasim unterstützen und ihr ein paar Steine auf ihrem ohnehin sehr holprigen Pfad aus dem Weg räumen.

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Thomas Wanner ist ist staatlich geprüfter Berg- und Skiführer und Mitarbeiter in der Abteilung Bergsport für die Bereiche Ausbildung und Sicherheit.

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